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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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man muss leider zugeben, dass es die Mehrheit war, eröffnete die Nachricht verführerische Aussichten. Bis jetzt hatten sie sich um die Neugier ihrer Sklaven nicht mehr geschert als um den Blick eines Möbelstücks oder sogar den eines Hundes. Nachdem diese Neugier aber nun begründet war, stand allen möglichen Spielen Tür und Tor offen, über die mich Ze Miguel zu unserer Erquickung jeden Sonntagabend treu und zuverlässig auf dem Laufenden hielt.
    Doch davon handelt mein Bericht nicht, mit dem ich vor allem moralische Absichten verfolge.

 
     
     
     
    Wenn ich an die fünf Jahre zurückdenke, die ich in Lissabon allein war, die einzige Zeit der Freiheit inmitten eines Lebens in Ketten, kommen sie mir vor wie eine Insel.
    Vor Lissabon war die Kindheit in Genua. Und die Kindheit ist ein Gefängnis.
    Dann ergriff mein Bruder Besitz von mir, und mein Gefängnis wurde noch enger: Nie, weder bei Tag noch bei Nacht, nicht in den hintersten Winkeln meiner Träume und selbst dann nicht, als der ganze Ozean uns trennte, entging ich Cristóbals Licht.
    Ich genoss diese portugiesische Freiheit umso berauschter, als ich wusste, dass sie von kurzer Dauer sein würde. Diejenigen, angefangen bei Euch, die mir mein lasterhaftes Verhalten in jener Zeit vorwerfen, die Dutzenden Witwen oder künftigen Witwen, die ich auf meine Art getröstet habe, sollten sich erinnern, dass ich unter Cristóbals Einfluss weit Schlimmeres angerichtet habe.
    Mein Bruder hatte noch nicht bei mir angeklopft, um mir das Ende meiner Mußestunden anzukündigen. Doch ich fühlte, wie er um mich herumstrich.
    Sosehr ich mir Augen und Ohren zuhielt und bei der erstbesten Erwähnung eines «jungen Ausnahmeseefahrers aus Genua» die Gespräche am Hafen floh, er war da. Wie ein Raubvogel kreiste er, wartete auf den Augenblick, in dem er sich auf mich stürzen konnte. Wenn er mich noch ein wenig schonte, dann nur, um mir Zeit zu verschaffen, mich vorzubereiten. Alles, was ich in derKunst des Kartenzeichnens lernte, konnte ihm für sein Unternehmen nur nützlich sein.
    Ich hatte damals noch keine Ahnung, was dieses Unternehmen war. Vielleicht wusste er es selbst noch nicht. Meine einzige Gewissheit war, dass es zu groß für mich sein würde, denn schon immer war mir Cristóbal in allem voraus gewesen: an Jahren, Größe, Stärke, Intelligenz, Träumen und Zuwendung von Frauen.
    Gott wollte, dass ich im Schatten meines Bruders geboren wurde.
    Gott wollte auch, dass ich niemals aus diesem Schatten heraustrat. Selbst heute nicht, da er seit sieben Jahren tot ist.

 
     
     
     
    Fast hätte ich Ursula vergessen. Dabei ist niemand mehr zu preisen. Ihr Pech, wenn meine Dominikaner sich an ihrem Beruf stören.
    Auch wenn es nie jemand zugeben hätte, und erst recht nicht wir, die Kartographen, die wir ihnen zweifellos die wertvollsten Informationen verdankten, die Prostituierten spielten eine entscheidende Rolle in unserer Stadt. Nach langen Jahren der Abwesenheit, mit den Kameraden und dem Ozean als einzigen Gefährten, träumten die meisten Seemänner, sobald sie den Fuß an Land gesetzt hatten, nur davon, in den Schoß einer Frau zu sinken. An jedem ihrer Ankerplätze hatten sie es mit Eingeborenen zu tun gehabt, doch, Schande über sie, wegen deren Hautfarbe und der Schroffheit ihres Benehmens hatten sie in ihnen eher Tiere gesehen als Menschen.
    In die Erleichterung, überlebt zu haben, mischte sich bei den Seefahrern also der Wille, dieses Wunder durch ebenso extensive wie unersättliche Unzucht zu bestätigen.
    Bis auf wenige Ausnahmen, deren Namen in Lissabon die Runde machten, war die Mehrzahl der Ehefrauen nicht bereit, diese Bedürfnisse zu erfüllen. Die endlose Zeit des Wartens hatte die Erinnerungen in Träumereien verwandelt, die immer ferner rückten und immer träger wurden. Die Körper erinnerten sich nicht mehr, waren verdutzt darüber, dass sie sich nackt gegenüberstanden. In glücklichen Fällen sollten die Eheleute einander wieder kennenlernen, doch dieses erneuerte Zutrauen benötigteviel Zeit, was mit der Ungeduld der Rückkehrer nicht vereinbar war. Häufig wurde das erneute Kennenlernen von dem einen oder der anderen oder gar von beiden nicht einmal versucht. Auf den ersten Blick schien die Liebe mit herzzerreißender (und abscheulicher) Deutlichkeit tot zu sein, und offensichtlich konnte nichts sie je wieder aufleben lassen.
    Wie Raubvögel zogen die Prostituierten ihren Vorteil aus diesen Ehetrümmern. Und ihr Gewerbe gedieh wie zu

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