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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Gerichtsprozessen und im Handel, in ihrem Umgang miteinander wie bei der Landvermessung, beim Graben von Kanälen und anderen Dingen und Techniken verschiedener Art.
    Der Exseemann schwieg, bis seine Zuhörerschaft, die Familie Colombo, aus dem Bagdad jenes vergangenen Jahrhunderts nach Genua zurückgekehrt war.
    «Die Zusammenfassung dieses Werks will ich Eure Kinder lehren.»
    Mein Vater ergriff die Hand unserer Mutter:
    «Siehst du? Das ist das Wissen, das mir immer gefehlt hat! Unsere Familie wird endlich den Platz bekommen, den sie verdient!»
    Und so gab unsere Mutter ihre Einwilligung, nicht ohne sich vorher über eine letzte Befürchtung beruhigt zu haben. Diese Rechenkunst war eine Erfindung der Muslime – würde sie ihre Nachkommen nicht verderben und dazu führen, dass sie entweder wahnsinnig oder exkommuniziert würden? Sie suchte ihren Beichtvater auf, der ihre Bedenken zerstreute: Alle Kaufleute von Bedeutung gebrauchten seit Langem, zum höchsten Ruhm des wahren Gottes, diese Methoden und fuhren sehr gut damit.
    Ich erinnere mich noch an die erste Unterrichtsstunde. Unser Lehrmeister sprach nur über das Wort
Algebra
mit uns.
    «Kinder, wollt ihr stark werden?»
    «Klar, Meister!»
    «Wollt ihr anderen euren Willen aufzwingen?»
    «Ja, ja, sie sollen unsere Sklaven sein!»
    «Wollt ihr Brüche heilen können?»
    «Das ist immer nützlich, Meister!»
    «Wollt ihr die Gesetze der Zeit kennen?»
    «Wir verstehen zwar nicht, was Ihr damit meint, Meister, aber schaden kann es nicht!»
    «Nun, dann hört: Das arabische Wort
al- abr,
von dem das Wort
Algebra
herkommt, ist alles das: die Kraft, der Zwang, das Wiederherstellen (von Brüchen) und die richtige Reihenfolge.»
    Ich erinnere mich auch an die Art, wie Al-Chwarizmi Fragen stellte. Es ging immer um alltägliche Probleme. Und immer kamen sie als Rätsel daher. Einige sind mir aus unerfindlichen Gründen im Gedächtnis geblieben:
    «Gegeben sei ein Guthaben. Du nimmst den dritten Teil plusdrei Dirhams davon weg. Und du multiplizierst den Rest mit sich selbst. Wie groß ist das Guthaben?»
    Oder:
    «Gegeben sei ein dreieckiges Stück Land. Seine beiden Seiten messen zehn Ellen und die Basis zwölf Ellen. In seinem Bauch steckt ein quadratisches Grundstück. Wie groß ist die Seite des Quadrats?»
    Wenn unser Lehrer merkte, dass unsere Aufmerksamkeit nachließ, weckte er sie mit einer Geschichte aus Bagdad.
    «Eines Tages berief Kalif Al-Wathiq seine Astrologen ins
Haus der Weisheit:
    
    Die Astrologen rechneten, rechneten noch einmal und kamen einhellig auf fünfzig Jahre.
    Zum Dank schenkte der Kalif ihnen Pferde, Edelsteine und verschiedene andere Freundschaftsgeschenke. Zehn Tage später war er tot.
    Und jetzt, Kinder, zurück zur Arbeit: Ein Mann stirbt. Er hinterlässt vier Söhne. Einem Nachbarn vermacht er genauso viel wie den Anteil des einen Sohnes und einem anderen Nachbarn ein Viertel dessen, was vom dritten Teil übrig ist…»
    Regelmäßig sah unser Vater nach uns: Hatten wir unser Verhältnis zu den Zahlen wirklich verbessert? Für ihn waren sie weiterhin ein mächtiger Stamm, dem er durchaus zutraute, Genua zu beherrschen. Mit der Unterstützung dieses Stammes wäre unser Glück gesichert. Ohne sie waren wir zu Armseligkeit verdammt.
    Unsere begeisterten Berichte freuten ihn, und dies umso mehr, als wir Worte gebrauchten, die er nicht kannte.
    «Die Hypotenuse ist für uns kein Geheimnis mehr.»
    «Irgendwann müssen wir dir einmal die Kubikwurzeln zeigen.»
    Dann baute sich unser kleinwüchsiger Vater in seiner ganzen Größe auf, legte den Arm um unsere Schultern und spazierte so mit uns durch die Stadt.
    «Kennt Ihr meine Kinder? Das hier ist Cristoforo, der Älteste, und das Bartolomeo. Merkt Euch ihre Gesichter. Sie werden Großes leisten. Woher ich das weiß?»
    Er lachte aus vollem Hals, verwundert, dass man an etwas so Offensichtlichem zweifeln konnte.
    «Muss ich Euch das wirklich erklären?»
    Mit einem Ausdruck des Überdrusses neigte er sich dem kleingläubigen Fragesteller zu und vertraute ihm mit leiser Stimme an:
    «Sie sind dabei, große Freunde der Zahlen zu werden.»
    Leider hatten wir nicht die Zeit, viel zu lernen. Signore Haddad lehrte uns dennoch ein paar richtige Dinge.
    Zum Beispiel die
Vielzahl der Zeiten.
    «Für einen Bauern, der pflanzt und erntet, ist die Zeit nicht dieselbe wie für einen Kaufmann, der kauft und verkauft. Sie ist auch nicht dieselbe wie für einen Bankier, der Geld

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