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Cristóbal

Cristóbal

Titel: Cristóbal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Vorschlag kam zur rechten Zeit. Alle im Hafen gesammelten Reiseberichte in einer einzigen kleinen Linie zusammenzufassen, enttäuschte mich Tag für Tag aufs Neue. Über jede Bucht, das kleinste Kap, die trostloseste Lagune an der afrikanischen Küste hatte ich dutzendweise Geschichten gesammelt, die in meinem Gedächtnis verschollen geblieben wären. Doch etwas sagte mir und sagt mir noch heute, dass verschmähte Geschichten sich über kurz oder lang rächen.
    Das Zeichnen genügte mir nicht mehr. Ich hatte Lust auf Wörter, auf ihre Genauigkeit, ihre Freiheit, ihre Unverschämtheit, ihre Anmaßung, ihren Doppelsinn, ihre hypnotischen Kräfte…
    Wörter fehlten mir besonders deswegen, weil sie mich an meinen Bruder erinnerten. Wo segelte er gerade, der Magier aus meiner Kindheit, der unvergleichliche Schöpfer von Träumen, die einen so verzauberten wie der Meereshorizont, in deren Sog man aber auch Gefahr lief, verschlungen zu werden? Man erzähltemir, er sei ein außerordentlicher, bei allen Reedern begehrter Seefahrer geworden. Doch mehr wusste ich nicht.
    Beide Erklärungen verbargen vielleicht noch eine dritte, die wichtigste. Das Beispiel Ze Miguels, seine zahllosen Erfolge bewiesen, dass es einem Witwenmacher niemals an Frauen fehlte. Aus Verpflichtung traf er viele. Und Frauen mit einer schwebenden Witwenschaft waren zwangsläufig weniger einschüchternd als glückliche Frauen. Das Glück einer Frau ist eine Festung, jeder Kummer ein Einfallstor.
    Das waren meine wahren, aber uneingestandenen Hoffnungen, als ich mich auf die neue Tätigkeit einließ. Schamhaft, wie ich bin, erlaube ich mir, dies und nur dies zu sagen: Meine Hoffnungen wurden nicht enttäuscht.
    Ein weiterer Vorteil dieser Arbeit lag darin, dass ich lernte, wie man erzählt.
    Im Laufe meines Lebens sollte ich weniger über Küsten schreiben als Küsten zeichnen. Und weniger Küsten zeichnen als versuchen, die Bevölkerung zu befrieden, die zwischen diesen Küsten lebte.
    Aber ich habe diese Schreibübungen geliebt, die halb der Kunstschreinerei ähnelten (man fügt die Worte zusammen wie Holzteile) und halb dem Schiffsbau (ist das Schiff erst fertig, schwimmt es von selbst auf dem Wasser; ist eine Geschichte gut gezimmert, treibt sie wie von selbst auf dem Papier oder dem Pergament vor die Augen der Leser).
    Ich vermute, die meisten meiner Witwenmachertexte sind verschwunden, von Hausbränden verzehrt oder von Ratten zernagt. Und nichts liegt mir ferner, als irgendeine Bekanntheit auf diesem Gebiet der Kritzelei anzustreben.
    Aber von einer dieser Beweisführungen habe ich eine Abschrift aufbewahrt, weil sie mir mühelos in den Sinn geflossen war und sich fügsam in eine Abfolge ziemlich überzeugender Sätzen verwandelt hatte. Hier also der Text, dem eine gewisse Frau Gilberta ihren Witwenstand verdankte, möge sie diesen genutzt haben, wozu auch immer er ihr gut schien.
    In Anbetracht der Tatsachen, dass an besagtem 12. September des Jahres 1472 zwei zur Mannschaft der Karavelle
Nostra Senhora de la Fronteira
gehörende Männer wenig unterhalb des Äquators an Land gingen, um Frischwasser aufzufüllen, und einer von ihnen der Gatte von Frau Gilberta war; dass sie in den Dschungel an der Küste eindrangen; dass der Kapitän nach sechs Stunden vergeblichen Wartens auf ihre Rückkehr einen Freiwilligen losschickte, um nach ihnen zu suchen, der sie jedoch nicht wiederfand; dass dieser auf wunderbare Weise gerettete Mann an allen Gliedern zitternd von der Riesenhaftigkeit und dem Geschling der Pflanzen erzählte, die er dort gesehen hatte, in tiefer Finsternis und umgeben von Tieren jeglicher Größe, von denen es in jener fortwährenden Nacht nur so wimmelte, die wild schrien und einem jedes erdenkliche Ungemach zufügen konnten, beißen, stechen, würgen; dass sich hier einmal mehr bestätigt hat, dass die jüngst entdeckten Welten bislang unbekannte Gräuel bergen, bei denen das Pflanzliche das Tierische an Gewalt und Heimtücke noch übertrifft; dass aus diesem unwiderlegbaren Verhältnis hervorgeht, welches gegebenenfalls durch drei Zeugenaussagen von glaubwürdigen Personen bei gesundem Verstand bestätigt werden kann, die augenblicklich vorladbar sind, wenn das Gericht dies für notwendig erachtet, dass Herrn Marco, dem Gatten von Frau Gilberta, nichts anderes zugestoßen sein kann, als dass er mit Haut und Haar verschlungen wurde von dieser Ansammlung von Bäumen, Schlingpflanzen und Büschen, die man in unseren Regionen «Wald»

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