Cronin, Justin
ein Sandsack. Andernfalls war's das, dann sind Sie erledigt.« Es war
eine nüchterne Feststellung, frei von Genugtuung oder Angst; es war, als rede
er vom Wetter. »Kommt nicht drauf an, dass sie mal Ihre liebe alte Oma war. Sie
wird Sie aussaugen, bevor Sie ein zweites Mal zielen können.«
Wolgast schob das Magazin ein, zog den
Verschluss zurück, um die Waffe durchzuladen, und vergewisserte sich, dass sie
gesichert war. »Woher wissen Sie das?«
»Internet. Es ist überall.« Der Mann zuckte die
Achseln. »Verschwörungstheorien, Vertuschungsaktionen der Regierung. Zeug über
Vampire. Das meiste klingt halb irre. Ist schwer zu sagen, was Bullshit ist
und was nicht.«
Wolgast verstaute die Pistole wieder in seinem
Kreuz. Er dachte daran, den Mann zu fragen, ob er seinen Computer benutzen
könne, um sich die Meldungen selbst anzusehen. Aber er wusste jetzt schon mehr
als genug. Es war durchaus möglich, begriff er, dass er mehr wusste als
irgendein anderer Sterblicher. Er hatte Carter und die andern gesehen, und er
wusste, wozu sie imstande waren.
»Ich sag Ihnen was. Da gibt's einen, der nennt
sich >Last Stand in Denver<. Hat ein Blog mit Videos aus einem Hochhaus
in der Stadtmitte. Sagt, er hat sich da mit einem Hochleistungsgewehr
verbarrikadiert. Hat ein paar gute Aufnahmen gemacht - Sie sollten sehen, wie
diese Scheißer sich bewegen.« Der Mann klopfte sich noch einmal auf das
Brustbein. »Denken Sie an das, was ich gesagt hab. Ein Schuss. Sie kriegen
keinen zweiten. Und sie sind nachts unterwegs, in den Bäumen.«
Der Mann half Wolgast, seine Einkäufe
zusammenzusuchen und zum Wagen zu tragen: Konserven, Milchpulver und Kaffee,
Batterien, Toilettenpapier, Kerzen, Benzin. Zwei Angelruten mit einer Kiste
Zubehör. Die Sonne stand hoch und hell am Himmel, und die Luft um sie herum war
wie erstarrt in einer ungeheuren Stille - so still wie in dem Augenblick vor
dem Beginn eines Orchesterkonzerts.
Am Kofferraum wechselten sie einen Händedruck.
»Sie sind oben im Bear Mountain Camp, stimmt's?«, sagte der Mann. »Wenn ich
fragen darf.«
Wolgast wusste nicht, warum er es verheimlichen
sollte. »Woher wissen Sie das?«
»Weil Sie da hergekommen sind.« Der Mann zuckte
die Achseln. »Da oben gibt's sonst nichts außer dem Camp. Keine Ahnung, warum
die das nie verkaufen konnten.«
»Ich war als Kind da. Komisch, es hat sich
überhaupt nicht verändert. Aber deshalb fährt man vermutlich wieder hin.«
»Sie sind clever. Das ist ein guter Platz. Keine
Sorge, ich sag's niemandem.«
»Sie sollten sich auch verdrücken«, sagte
Wolgast. »Höher hinauf in die Berge. Oder in den Norden.« Wolgast sah es den
Augen des Mannes an: Er fasste einen Entschluss. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich
zeig Ihnen was.«
Er ging mit Wolgast zurück in den Laden und
durch den Vorhang nach hinten. Dahinter war ein kleines Wohnzimmer. Die Luft
war abgestanden und stickig, und die Jalousien waren fest geschlossen. Unter dem
Fenster brummte eine Klimaanlage. Wolgast blieb in der Tür stehen und wartete,
bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Mitten im Zimmer stand
ein großes Krankenhausbett mit einer schlafenden Frau. Das Kopfende war um
fünfundvierzig Grad hochgestellt, und er sah ihr verhärmtes Gesicht, leicht
zur Seite gewandt, zu dem Licht hin, das durch die geschlossenen Jalousien
schimmerte. Sie lag unter einer Wolldecke, aber Wolgast konnte sehen, wie mager
sie war. Auf einem kleinen Tisch lagen Dutzende von Tablettenröhrchen,
Verbandmull und Salbe, eine verchromte Schale, in Plastik verpackte Spritzen,
und neben dem Bett stand eine hellgrüne Sauerstoffflasche. Die Decke war unten
zurückgeschlagen, und ihre nackten Füße schauten heraus. Wattebäusche klemmten
zwischen den gelblichen Zehen; auf dem Stuhl am Fußende lagen Fläschchen mit
buntem Nagellack und eine Feile.
»Sie hatte immer gern die Füße hübsch«, sagte
der Mann leise. »Ich hab sie ihr gerade gemacht, als Sie kamen.«
Sie gingen wieder hinaus. Wolgast wusste nicht,
was er sagen sollte. Die Situation war klar: Der Mann und seine Frau gingen
nirgendwohin. Wolgast trat hinaus in das helle Sonnenlicht auf dem Parkplatz.
»Sie hat MS«, erklärte der Mann. »Ich wollte sie
so lange zu Hause behalten, wie ich kann. Das hatten wir vereinbart, als es im
letzten Winter anfing, ihr wirklich schlecht zu gehen. Eigentlich sollte eine
Pflegerin hier sein, aber seit einer Woche ist keine mehr gekommen.« Er
scharrte mit dem Fuß im Kies und
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