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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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Stiefel
aufzubinden. »Wie alt ist Ihre Tochter? Ich wollte immer Kinder haben. Wieso
hab ich mir keine angeschafft?«
    »Das weiß ich nicht, Bob.« Wolgast hob die
Springfield. »Drehen Sie sich um, und sehen Sie mich an. Sofort.«
    Bob stand auf. Irgendetwas passierte mit ihm. Er
fasste sich an die blutige Wunde an seinem Hals. Ein neuerlicher Krampf
schüttelte ihn, aber sein Gesichtsausdruck war lustvoll, beinahe sexuell
erregt. Im Mondschein schien seine Haut beinahe zu leuchten. Er krümmte den
Rücken wie eine Katze, und seine Augen waren halb geschlossen vor Behagen.
    »Wow, das ist gut«, sagte er. »Das ist wirklich
... gut.«
    »Tut mir leid«, sagte Wolgast.
    »Hey, warten Sie!« Erschrocken riss Bob die
Augen auf und streckte die Hände aus. »Moment mal!«
    »Tut mir leid, Bob«, wiederholte Wolgast und
drückte ab.
     
    Der Winter endete im Regen. Tagelang strömte er
herunter, durchtränkte den Wald, ließ den Fluss und den See anschwellen und
schwemmte davon, was von der Straße noch übrig war.
    Er hatte den Leichnam verbrannt, wie Bob es ihm
aufgetragen hatte. Er hatte ihn mit Benzin übergossen, und als die Flammen
erloschen waren, hatte er die Asche mit Wäschebleiche bestreut und alles unter
einem Hügel aus Steinen und Erde begraben. Am nächsten Morgen durchsuchte er
das Schneemobil. Die Behälter, die darauf festgezurrt waren, erwiesen sich als
leere Benzinkanister, aber in einem Lederbeutel am Lenker fand er Bobs
Brieftasche. Ein Führerschein mit Bobs Foto und einer Adresse in Spokane, die
üblichen Kreditkarten, ein paar Dollar in bar, ein Bibliotheksausweis. Ein Foto
war auch dabei; es war in einem Atelier aufgenommen: Bob trug einen dicken
Winterpulli und posierte neben einer hübschen blonden Frau, unübersehbar
schwanger, und zwei Kindern, einem kleinen Mädchen in einem grünen Samtkleid
und einem Baby im Strampelanzug. Alle lächelten breit, selbst das Baby. Auf der
Rückseite des Fotos stand in Frauenhandschrift: »Timothys erstes Weihnachten«.
Warum hatte er gesagt, er habe keine Kinder gehabt? Hatte er mitansehen müssen,
wie sie starben? War das so schmerzhaft gewesen, dass sein Hirn es einfach aus
dem Gedächtnis gelöscht hatte?
    Wolgast vergrub die Brieftasche am Hang und
markierte die Stelle mit einem Kreuz aus zwei mit einer Schnur
zusammengebundenen Stöcken. Es sah nicht sehr eindrucksvoll aus, aber etwas
anderes fiel ihm nicht ein.
    Wolgast wartete darauf, dass noch andere kamen;
er nahm an, dass Bob nur der Erste gewesen war. Er verließ die Lodge nur noch,
um die notwendigsten Arbeiten zu erledigen, und nur bei Tag. Die Springfield
hatte er immer bei sich, und Carls .38er lag geladen im Handschuhfach des
Toyota. Alle paar Tage startete er den Motor und ließ ihn eine Weile laufen,
damit die Batterie sich nicht entlud. Bob hatte etwas von Kalifornien gesagt.
War es dort noch sicher? War es irgendwo noch sicher? Gern hätte er Amy
gefragt: Hörst du sie kommen? Wissen sie, wo wir sind? Er
hatte keine Landkarte, um ihr zu zeigen, wo Kalifornien lag. Stattdessen stieg
er eines Abends kurz nach Sonnenuntergang mit ihr auf das Dach. Siehst du
diesen Bergkamm?, fragte er und deutete nach Süden. Folge meinem Zeigefinger,
Amy. Die Cascades. Wenn mir irgendetwas passieren sollte, musst du diesem
Bergkamm folgen. Lauf weg, und lauf immer weiter.
    Aber Monate vergingen, und sie waren immer noch
allein. Der Regen hörte auf, und eines Morgens trat Wolgast aus der Lodge, es
roch und schmeckte nach Sonne, und er fühlte, dass sich etwas geändert hatte.
Vögel sangen in den Bäumen, und als er zum See hinüberschaute, sah er offenes
Wasser, wo eine massive Eisschicht gewesen war. Ein milder grüner Dunst hing in
der Luft, und am Fundament der Lodge ragte eine Reihe von Krokussen aus dem
Boden. Die Welt mochte sich selbst in die Luft sprengen, doch hier kam wieder
der Frühling, der Frühling in den Bergen. Aus allen Himmelsrichtungen konnte
man das Leben hören und riechen. Wolgast wusste nicht einmal, welcher Monat
war. War es April oder Mai? Aber er hatte keinen Kalender, und die Batterie in
seiner Uhr, die er seit dem Herbst nicht mehr getragen hatte, war längst leer.
    Als er in dieser Nacht mit der Springfield in
der Hand in seinem Sessel bei der Tür saß, träumte er von Lila. Halb wusste
er, dass es ein Sextraum war, ein Traum, in dem er mit ihr schlief, aber
trotzdem war es anders. Lila war schwanger, und sie spielten Monopoly. Der
Traum hatte keine besondere Umgebung; der

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