Cronin, Justin
fing Wolgast an, sich zu übergeben, und konnte nicht mehr aufhören. Er
würgte noch lange, als schon nichts mehr herauskam als dünner Schleim, schwarz
wie Teer. Sein Bein war entzündet, aber vielleicht kam auch das von der
Strahlung. Grünlicher Eiter sickerte aus der Wunde und durchtränkte den
Verband. Das Sekret roch faulig, aber der Geruch war auch in seinem Mund, in
seinen Augen und seiner Nase. Anscheinend war er überall in seinem Körper.
»Das wird schon wieder«, sagte er zu Amy, die
nach allem, was passiert war, wieder ganz die Alte war. Ihre versengte Haut
hatte sich abgeschält, und darunter war eine neue zutage getreten, weiß wie
Milch im Mondschein. »Nur ein paar Tage liegen, und ich bin wieder fit.«
Er legte sich auf seine Pritsche in dem Zimmer
unter dem Dach neben Amys. Er spürte, wie die Tage um ihn herum und durch ihn
hindurch verstrichen, und er wusste, dass er starb. Die schnellteilenden
Zellen seines Körpers - in der Schleimhaut des Magens und der Kehle, in den
Haaren und im Zahnfleisch, das die Zähne hielt - wurden als Erste zerstört. So
war es doch bei Verstrahlung, oder? Und jetzt hatte es sein Innerstes gefunden,
griff in ihn hinein wie eine große, tödliche Hand, schwarz und vogelknochig. Er
löste sich auf wie eine Tablette in einem Wasserglas, und der Prozess war
unumkehrbar. Er hätte versuchen sollen, sie vom Berg hinunterzubringen, aber
der richtige Augenblick dazu war längst vorüber. An den Rändern seines
Bewusstseins fühlte er Amys Anwesenheit, ihre Bewegungen, den Blick ihrer wachsamen,
allzu weisen Augen. Sie hielt ihm Wassergläser an die rissigen Lippen, und er
bemühte sich nach besten Kräften zu trinken; er wollte die Nässe, aber vor
allem wollte er ihr eine Freude machen und ihr irgendwie versichern, dass er
wieder gesund werden würde. Doch er konnte nichts bei sich behalten.
»Ich komme zurecht«, sagte sie immer wieder,
aber vielleicht träumte er es nur. Ihre Stimme war leise und dicht an seinem
Ohr. Sie strich ihm mit einem Tuch über die Stirn, und er fühlte im dunklen
Zimmer ihren sanften Atem auf seinem Gesicht. »Ich komme zurecht.«
Sie war ein Kind. Was würde aus ihr werden, wenn
er nicht mehr da wäre? Aus diesem kleinen Mädchen, das kaum schlief oder aß und
dessen Körper nichts von Krankheit und Schmerz wusste?
Nein, sie würde nicht sterben. Das war das
Schlimmste - das Furchtbare, das sie getan hatten. Die Zeit teilte sich vor
ihr wie die Wellen an einem Pier. Sie zog an ihr vorbei, aber Amy blieb
dieselbe. Und Noahs ganzes Alter ward neunhundert fünf zig
Jahre. Wie immer es ihnen auch gelungen sein mochte:
Amy würde und konnte nicht sterben.
Es tut mir leid, dachte er. Ich habe mein Bestes
getan, doch es war nicht genug. Ich hatte von vornherein zu viel Angst. Wenn es
einen Plan gab, konnte ich ihn nicht sehen. Amy, Eva, Lila, Lacey. Ich war nur
ein Mensch. Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.
Und eines Nachts wachte er auf und war allein.
Er spürte es sofort: Abschied lag in der Luft, Abwesenheit, Flucht. Es
erforderte seine ganze Kraft, nur die Decke zurückzuschlagen. Der Wollstoff in
seiner Hand fühlte sich an wie Sandpapier, wie brennende Dornen. Er setzte sich
auf - eine Riesenanstrengung. Sein Körper war ein gewaltiges, sterbendes Ding,
das sein Geist kaum noch zusammenhalten konnte. Und doch gehörte er noch ihm;
es war der Körper, in dem er sein ganzes Leben verbracht hatte. Wie seltsam es
war, zu sterben, zu fühlen, wie sein Körper ihn verließ. Aber ein Teil seiner
selbst hatte es immer gewusst. Sterben, hatte
sein Körper ihm gesagt, sterben. Darum leben
wir: um zu sterben.
»Amy«, sagte er, und er hörte seine eigene
Stimme, ein fahles Krächzen. Ein schwaches, nutzloses Geräusch ohne Form, das
einen Namen rief, in einem dunklen Zimmer, in dem niemand war. »Amy.«
Er schleppte sich hinunter in die Küche und
zündete die Lampe an. In ihrem flackernden Licht sah alles aus wie immer, und
trotzdem erschien es irgendwie verändert - derselbe Raum, in dem er und Amy ein
Jahr lang gelebt hatten, und doch ein völlig neuer Ort. Er wusste nicht, wie
spät es war, welcher Tag, welcher Monat. Amy war fort.
Er taumelte aus dem Haus, über die Veranda und
in den Wald hinein. Der Mond hing über den Bäumen wie ein halbgeschlossenes
Auge, wie ein Spielzeug an einem Draht, ein lächelndes Mondgesicht über einem
Kinderbett. Sein Licht ergoss sich über eine Landschaft aus Asche, in der
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