Cronin, Justin
kannte er die Antwort: meine Mutter. Meine
Mutter ist tot.
»Ich erinnere mich nicht an sie«, sagte Amy.
Ihre Stimme war leidenschaftslos, als erzähle sie ihm etwas, das er längst
wissen musste. »Aber ich weiß, sie ist tot.«
»Woher weißt du das?«
»Ich kann es fühlen.« Amy schaute Wolgast im
Dunkeln in die Augen. »Ich fühle sie alle.«
Manchmal, in den frühen Morgenstunden, träumte
Amy. Wolgast hörte ihre leisen Schreie aus dem Nachbarzimmer und das Ächzen der
Sprungfedern ihrer Pritsche, wenn sie sich unruhig hin und her wälzte. Schreie
waren es eigentlich nicht - eher ein Murmeln wie von Stimmen, die sich im
Schlaf ihren Weg durch sie bahnten. Manchmal stand sie dann auf und ging die
Treppe hinunter in das Hauptzimmer der Lodge, das mit den breiten Fenstern zum
See. Wolgast beobachtete sie von der Treppe aus. Sie stand dann immer ein paar
Augenblicke lang still im warmen Feuerschein des Ofens, das Gesicht zum Fenster
gewandt. Es war offensichtlich, dass sie immer noch schlief, und Wolgast war
klug genug, sie nicht zu wecken. Schließlich drehte sie sich um, kam die Treppe
herauf und ging wieder ins Bett.
Wie fühlst du sie, Amy?, fragte
er. Was fühlst du? Ich
weiß es nicht, sagte sie dann, ich weiß es nicht. Sie sind traurig. Es sind so
viele. Sie haben vergessen, wer sie waren. Wer
waren sie denn, Amy? Und sie sagte: Alle.
Sie sind alle.
Wolgast schlief jetzt im ersten Stock der Lodge
in einem Sessel an der Tür. Sie sind nachts unterwegs, hatte Carl gesagt, in
den Bäumen. Sie haben nur einen Schuss. Was waren sie, diese Wesen in den
Bäumen? Waren sie Menschen, wie Carter einmal ein Mensch gewesen war? Was waren
sie geworden? Und Amy: Amy, die von Stimmen träumte, Amy, deren Haare nicht
wuchsen, und die anscheinend nur selten schlief und nur selten aß. Amy, die
lesen und schwimmen konnte, als erinnere sie sich an Leben und Erfahrungen, die
nicht ihre eigenen waren: Gehörte sie auch zu ihnen? Das Virus war inaktiv,
hatte Fortes gesagt. Und wenn nicht? Würde er, Wolgast, nicht krank werden?
Aber er war es nicht. Er fühlte sich wie immer, nämlich einfach ratlos, begriff
er, ratlos wie ein Mann in einem Traum, verirrt in einer Landschaft voll
sinnloser Wegweiser. Die Welt hatte eine Verwendung für ihn, die er nicht
verstand.
Eines Nachts im März hörte er einen Motor.
Draußen lag hoch und schwer der Schnee. Der Vollmond schien. Er war im Sessel
eingeschlafen. Schon im Schlaf, erkannte er, hatte er das Geräusch eines Motors
auf der langen Zufahrt zum Camp gehört. In seinem Traum - einem Alptraum - war
dieses Geräusch das Tosen der Waldbrände im Sommer gewesen, die sich den Berg
herauffraßen. Er war mit Amy durch den Wald geflüchtet, überall waren Rauch
und Feuer gewesen, und er hatte sie verloren.
Grelles Licht fiel durch die Fenster, und
Schritte polterten auf der Veranda, schwerfällige, stolpernde Schritte.
Wolgast sprang auf. Alle seine Sinne waren hellwach. Die Springneid war in
seiner Hand. Er lud sie durch und entsicherte sie. Drei harte Schläge
erschütterten die Tür.
»Da ist jemand draußen.« Das war Amys Stimme.
Wolgast drehte sich um. Sie stand am Fuße der Treppe.
»Nach oben!«, befahl Wolgast in rauem
Flüsterton. »Lauf schnell!«
»Ist jemand da drinnen?« Eine Männerstimme auf
der Veranda. »Ich sehe den Rauch! Ich trete ein Stück zurück!«
»Amy, lauf nach oben, sofort!«
Wieder hämmerte es an die Tür. »Um Gottes
willen, wenn Sie mich hören können, machen Sie auf! Irgendjemand!«
Amy zog sich nach oben zurück. Wolgast schlich
zum Fenster und schaute hinaus. Es war kein Auto, kein Laster, sondern ein
Schneemobil. Klobige Behälter waren auf dem Chassis festgezurrt. Am Fuße der
Verandatreppe, im Licht der Scheinwerfer, stand ein Mann in Parka und Stiefeln.
Er stand vorgebeugt da, die Hände auf die Knie gestützt.
Wolgast öffnete die Tür. »Bleiben Sie, wo Sie
sind«, warnte er. »Ich will Ihre Hände sehen.«
Matt hob der Mann die Arme. »Ich bin nicht
bewaffnet«, sagte er. Er keuchte, und dann sah Wolgast das Blut - ein leuchtend
rotes Band, das an der Seite seines Parkas herunterlief. Die Wunde war an
seinem Hals.
»Mir geht's mies«, sagte der Mann.
Wolgast trat einen Schritt nach vorne und hob
die Pistole. »Verschwinden Sie hier!«
Der Mann fiel auf die Knie. »O Gott«, stöhnte
er. »Gott im Himmel.« Dann beugte er sich vor und übergab sich in den Schnee.
Wolgast drehte sich um. Amy stand in der Tür. »Amy, geh ins
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