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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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nach ihr.
    Sie erschien oben an der Treppe. Ihre Haut sah
so wenig Sonne, dass sie hellweiß wie Porzellan war.
    »Hast du schon mal Schnee gesehen?«
    »Ich weiß nicht. Ich glaube schon.«
    »Na, jetzt schneit es.« Er lachte, und er hörte
die Freude in seiner eigenen Stimme. »Das darfst du dir nicht entgehen lassen.
Komm.«
    Als er sie angezogen hatte - Mantel, Stiefel,
aber auch die Sonnenbrille und die Mütze und eine dicke Schicht
Sonnenschutzcreme auf jedem ungeschützten Zollbreit ihrer Haut -, hatte es
ernsthaft zu schneien begonnen. Sie trat hinaus in die weißen Wirbel, und ihre
Bewegungen waren feierlich wie bei einem Forscher, der den Fuß auf einen neuen
Planeten setzt.
    »Was sagst du dazu?«
    Sie legte den Kopf zurück und streckte die Zunge
aus, eine instinktive Gebärde, mit der sie die Schneeflocken einfing und
kostete. Sie lächelte ihn an.
    »Gefällt mir«, befand sie.
    Sie hatten eine Unterkunft, sie hatten zu essen,
und sie hatten es warm. Im September war er noch zweimal bei Milton's gewesen,
denn er wusste, dass die Straße im Winter unbefahrbar sein würde, und er hatte
alle Lebensmittel mitgenommen, die noch in dem Laden waren. Wenn sie Konserven,
Milchpulver, Reis und Trockenbohnen gut einteilten, würden die Vorräte bis zum
Frühling reichen. Der See war voller Fische, und in einer der Hütten hatte er
einen Eisbohrer gefunden; es wäre also ganz einfach, ein paar Angelschnüre
auszuhängen. Der Propantank war noch halb voll. Der Winter also - Wolgast hieß
ihn willkommen, und er spürte, wie er sich entspannt seinem Rhythmus überließ.
Niemand war gekommen; die Welt hatte sie vergessen. Sie waren zusammen abgeschieden
in der Einsamkeit und in Sicherheit.
    Am Morgen lag der Schnee dreißig Zentimeter hoch
um die Hütten. Gleißend hell brach die Sonne durch die Wolken. Wolgast verbrachte
den Nachmittag damit, den Holzstapel auszugraben und einen Weg zwischen der
Lodge und dem Stapel und einen zweiten zu einer Hütte freizuschaufeln, die er
als Kühlhaus benutzen wollte. Inzwischen spielte sein Leben sich fast nur noch
in der Nacht ab - so war es am einfachsten, sich an Amys Zeitplan anzupassen
-, und das Sonnenlicht auf dem Schnee blendete ihn wie eine Explosion, vor der
er die Augen nicht schließen konnte. Vermutlich empfand sie sogar gewöhnliches
Licht ständig so, dachte er. Als es dunkel wurde, gingen sie beide wieder
hinaus.
    »Ich zeige dir, wie man einen Schnee-Engel
macht«, sagte er und legte sich auf den Rücken. Am Himmel über ihm strahlten
die Sterne. Von Milton's hatte er eine Dose Kakaopulver mitgebracht, von der er
Amy nichts erzählt hatte; er hatte sich vorgenommen, sie für einen besonderen
Anlass aufzuheben. Heute Nacht würde er ihre Kleider am Kachelofen trocknen,
und sie würden im Warmen sitzen und heißen Kakao trinken. »Jetzt musst du die
ausgestreckten Arme und Beine auf und ab bewegen«, erklärte er. »So.«
    Sie legte sich neben ihn in den Schnee. Ihre
zierliche Gestalt war leicht und gelenkig wie die einer Turnerin. Sie bewegte
ihre flinken Arme und Beine hin und her. »Was ist ein Engel?«, fragte sie.
    Wolgast überlegte. In all ihren Gesprächen war
so etwas noch nicht vorgekommen. »Na ja, ich würde sagen, eine Art Geist.«
    »Ein Geist. Wie Jacob Marley.« Sie hatten Ein
Weihnachtsmärchen gelesen - besser gesagt, Amy hatte es
ihm vorgelesen. Seit jenem Abend im Sommer, als er herausgefunden hatte, dass
sie lesen konnte - und zwar mit Gefühl und Ausdruck -, saß Wolgast nur noch da
und hörte ihr zu.
    »Ich nehme es an, ja. Aber nicht so
furchterregend wie Jacob Marley.« Sie lagen immer noch Seite an Seite im
Schnee. »Engel sind ... ja, ich würde sagen, sie sind gute Geister. Geister,
die uns vom Himmel aus beschützen. Zumindest glauben das manche Leute.«
    »Du auch?«
    Wolgast verschlug es kurz die Sprache. Er hatte
sich nie ganz an ihre direkte Art gewöhnen können. Amys Unbefangenheit erschien
ihm einerseits sehr kindlich, aber oft war das, was sie sagte und fragte, von
einer Unverblümtheit, die fast den Eindruck von Weisheit erweckte.
    »Ich weiß es nicht. Meine Mutter hat es
geglaubt. Sie war sehr religiös, sehr fromm. Mein Vater wahrscheinlich nicht.
Er war ein guter Mann, aber er war Ingenieur. Er dachte nicht so.«
    Sie schwiegen beide eine Weile.
    »Sie ist tot«, sagte Amy dann leise. »Ich weiß
es.«
    Wolgast richtete sich auf. Amys Augen waren
geschlossen.
    »Wer ist tot, Amy?« Aber kaum hatte er die Frage
gestellt,

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