Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
Vom Netzwerk:
in der Hand
sitzen. Das war das letzte Mal, dass irgendjemand Carter in Terrell besucht
hatte, und es war mindestens zwei Jahre her.
    Die Sache war die, dass die Frau, Mrs Woods, immer
nett zu ihm gewesen war; sie hatte ihm einen Fünfer oder einen Zehner extra
gegeben, und an heißen Tagen hatte sie ihm den Eistee herausgebracht, immer
auf einem kleinen Tablett, wie sie es im Restaurant machten, und was sich
zwischen ihnen zugetragen hatte, war verwirrend. Carter tat es leid,
abgrundtief leid, aber in seinem Kopf ergab es trotzdem keinen Sinn, wie er es
auch drehte. Er hatte nie abgestritten, dass er es getan hatte, aber es war
nicht recht, dass er für etwas sterben sollte, was er nicht verstand -
zumindest nicht, bevor er Gelegenheit hatte, es herauszufinden. Im Geiste ging
er es immer wieder durch, doch auch in vier Jahren war es ihm nicht klarer
geworden. Die Sache ergab weniger Sinn denn je, und so, wie die Tage und Wochen
und Monate in seinem Kopf zu einem einzigen Brei zerflossen, war er nicht mehr
sicher, ob er sich überhaupt noch richtig erinnerte.
    Bei Schichtwechsel um sechs Uhr weckten die
Wärter wieder alle. Sie riefen Namen und Nummern und zogen mit den Wäschesäcken
durch den Korridor, um Unterhosen und Socken auszutauschen. Das bedeutete,
dass heute Freitag war. Carter hatte nur einmal wöchentlich Gelegenheit zum
Duschen, und alle sechzig Tage durfte er zum Frisör; deshalb war es gut,
saubere Sachen zu bekommen. Das klebrige Gefühl auf der Haut war im Sommer
schlimmer. Man schwitzte den ganzen Tag, selbst wenn man stocksteif dalag, aber
nach dem, was sein Anwalt in dem Brief mitgeteilt hatte, den er vor sechs
Monaten geschrieben hatte, würde Carter in seinem Leben nicht noch einen
texanischen Sommer durchstehen müssen. Am zweiten Juni wäre Schluss.
    Zwei harte Schläge an die Tür rissen ihn aus
seinen Gedanken. »Carter. Anthony Carter.« Die Stimme gehörte Pincher, dem
Leiter der Schicht.
    »Ach, komm, Pincher«, sagte Anthony von seiner
Pritsche her. »Was glaubst du, wer hier drin ist?«
    »Antreten für die Handschellen, Tone.«
    »Jetzt ist keine Freistunde. Und mein Duschtag
ist auch nicht.«
    »Glaubst du, ich hab den ganzen Morgen Zeit, um
hier rumzustehen und zu quatschen?«
    Carter erhob sich von der Pritsche, wo er an die
Decke gestarrt und an die Frau gedacht hatte, an das Glas Eistee auf dem
Tablett. Seine Glieder waren steif und schmerzten, und mit Mühe ließ er sich
auf die Knie nieder, den Rücken zur Tür gewandt. So hatte er es schon tausendmal
gemacht, aber es gefiel ihm immer noch nicht. Das Gleichgewicht zu halten, das
war das Knifflige daran. Als er kniete, zog er die Schulterblätter ein, bog
die Arme zurück und schob die Hände mit aufwärts gewandten Handflächen durch
den Türschlitz, durch den sie das Essen hereinreichten. Er spürte den kalten
Biss des Metalls, als Pincher ihm die Handschellen anlegte. Pincher, den
Kneifer, nannten sie ihn hier alle, weil er sie so stramm zusammendrückte.
»Zurücktreten, Carter.«
    Carter stellte einen Fuß vor, und sein linkes
Knie gab ein Knacken von sich, als er seinen Schwerpunkt verlagerte und dann
vorsichtig aufstand, wobei er zugleich die gefesselten Hände aus dem Türschlitz
nahm. Auf der anderen Seite der Tür klirrte Pinchers großer Schlüsselbund, und
dann ging die Tür auf. Er sah Pincher und den Wärter, den sie Dennis the Menace
nannten - wegen seiner Haare, die aussahen wie bei dem kleinen Jungen aus den
Cartoons. Er bedrohte einen gern mit seinem Schlagstock, und er hatte es raus,
Stellen am Körper zu finden, von denen man gar nicht wusste, dass sie so
wehtun konnten, wenn man nur ein bisschen mit dem Knüppel dagegen stieß.
    »Anscheinend hast du Besuch, Carter«, sagte
Pincher. »Und es ist weder deine Mutter noch dein Anwalt.« Er lächelte nicht
und verzog auch sonst keine Miene, doch Dennis hatte anscheinend großen Spaß.
Er wirbelte seinen Stock herum wie eine Majorette.
    »Meine Mom ist im Himmel, seit ich zehn war«,
sagte Carter. »Das weißt du, Pincher, das hab ich dir schon hundertmal gesagt.
Wer will mich sehen?«
    »Kann ich dir nicht sagen. Der Direktor hat es
angeordnet. Ich soll dich nur in den Käfig bringen.«
    Das brachte nichts, dachte Carter. Es war so
lange her, dass der Ehemann der Frau ihn besucht hatte; vielleicht war er
gekommen, um sich zu verabschieden, oder um ihm zu sagen: Ich hab's mir anders
überlegt, ich verzeihe dir doch nicht, fahr zur Hölle, Anthony Carter. So

Weitere Kostenlose Bücher