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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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einem beschissenen Ranchhaus ohne eine Spur von Schatten und wanderte
bei achtunddreißig Grad in die Schule, in einer Hitze, die sich anfühlte, als
falle ihm ein riesiger Schuh auf den Kopf. Am Ende der Welt, dachte er damals.
Da war er. Houston, Texas war das Ende der Welt. An seinem ersten Tag in der sechsten
Klasse hatte der Lehrer ihn aufstehen und den Treueeid auf Texas, schwören
lassen, als habe er sich darum beworben, in einem ganz anderen Land zu leben.
Drei elende Jahre. Nie war er so froh gewesen, von irgendwo fortzugehen, trotz
der Art und Weise, wie es dazu gekommen war. Sein Vater war
Maschinenbauingenieur; seine Eltern hatten sich kennengelernt, als sein Vater
ein Jahr nach dem College einen Job als Mathelehrer in der Reservation in
Grande Ronde angenommen hatte, wo seine Mutter als Schwesternhelferin
arbeitete. Sie war zur Hälfte Chinook-Indianerin - der Familienname
mütterlicherseits war Po-Bear. Nach Texas waren seine Eltern des Geldes wegen
gegangen, aber beim Ölcrash '86 verlor sein Vater seinen Job. Sie versuchten,
das Haus zu verkaufen, doch das ging nicht, und am Ende hatte sein Vater die
Schlüssel einfach bei der Bank abgeliefert. Sie zogen nach Michigan, dann nach
Ohio, dann nach Upstate New York, immer auf der Suche nach irgendwelchen
Handwerkerjobs, doch sein Vater kam danach nie wieder richtig auf die Beine.
Als er zwei Monate vor Wolgasts Highschool-Abschluss an Leberkrebs gestorben
war - für Wolgast war es die dritte Highschool in ebenso vielen Jahren -, war
es leicht, alles irgendwie auf Texas zu schieben. Seine Mutter war kurz danach
wieder nach Oregon zurückgegangen, aber jetzt war sie auch nicht mehr da.
Niemand war mehr da.
    Den ersten Mann, Babcock, hatte Wolgast in
Nevada abgeholt. Die anderen kamen aus Arizona und Louisiana, aus Kentucky und
Wyoming und Florida, aus Indiana und Delaware. Viel mehr hatte Wolgast für
diese Gegenden auch nicht übrig. Aber alles war besser als Texas.
    Wolgast und Doyle waren am Abend zuvor von
Denver nach Houston geflogen. Sie hatten im Radisson am Flughafen übernachtet;
er hatte überlegt, ob er einen kurzen Abstecher in die Stadt machen und vielleicht
sein altes Haus aufsuchen sollte, aber dann hatte er sich gefragt, weshalb zum
Teufel er so etwas tun sollte. Am Morgen hatten sie einen Leihwagen genommen,
einen Chrysler Victory, der so neu war, dass er roch wie die Druckfarbe an
einem Dollarschein, und waren nach Norden gefahren. Es war ein klarer Tag, und
der hohe Himmel war kornblumenblau. Wolgast saß am Steuer, und Doyle nippte an
seinem Caffe Latte und las eine Akte. Ein Berg Papier lag auf seinem Schoß.
    »Darf ich Ihnen Anthony Carter vorstellen?«
Doyle hielt das Foto hoch. »Proband Nummer zwölf.«
    Wolgast wollte nicht hinschauen. Er wusste
schon, was er sehen würde: noch so ein schlaffes Gesicht, noch ein Paar Augen,
die kaum jemals lesen gelernt hatten, noch eine Seele, die zu lange in sich
selbst hineingestarrt hatte. Diese Männer waren schwarz oder weiß, dick oder
dünn, alt oder jung, aber die Augen waren immer gleich: leer wie ein Abfluss,
in dem die ganze Welt verschwinden konnte. Es war leicht, abstraktes Mitgefühl
für sie zu empfinden, doch es blieb abstrakt.
    »Wollen Sie nicht wissen, was er getan hat?«
    Wolgast zuckte die Achseln. Er hatte es nicht
eilig damit.
    Doyle schlürfte seinen Latte und las vor.
»Anthony Lloyd Carter. Afro-Amerikaner, ein Meter sechzig, hundertzwanzig
Pfund.« Doyle blickte auf und zuckte die Achseln. »Das erklärt den Spitznamen.
Raten Sie mal.«
    Wolgast war jetzt schon müde. »Keine Ahnung.
Little Anthony?«
    »Da merkt man Ihr Alter, Boss. Er heißt T-Tone.
T wie tiny. Der Winzling. Nehme ich
an, aber man weiß ja nie. Mutter verstorben, kein Dad weit und breit vom ersten
Tag an, Unterbringung in diversen Pflegefamilien auf Kosten des Countys.
Schlechter Start in jeder Hinsicht. Vorstrafenregister, aber hauptsächlich
Kleinkram: Bettelei, Erregung öffentlichen Ärgernisses, solche Sachen. Also -
die eigentliche Story ist die: Unser Mann Anthony mäht jede Woche den Rasen bei
einer Lady. Sie heißt Rachel Woods, wohnhaft in River Oaks, zwei kleine
Töchter, der Ehemann irgendein großer Anwalt. Wohltätigkeitsbälle, Benefizveranstaltungen,
Country Clubs. Anthony Carter ist ihr Projekt. Fängt
an, ihren Rasen zu mähen, als sie ihn eines Tages unter einer Hochstraße
stehen sieht, mit einem Schild: >Habe Hunger, bitte um kleine Spende.<
Etwas in der Richtung. Jedenfalls - sie

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