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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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oder
so, Carter hatte dem Mann nichts mehr zu sagen. Er hatte sich immer wieder bei
allen entschuldigt, und jetzt reichte es ihm.
    »Dann los«, sagte Pincher.
    Sie führten ihn den Korridor hinunter. Pincher
packte ihn hart beim Ellenbogen, als bugsiere er ein Kind durch eine
Menschenmenge oder ein Mädchen, mit dem er tanzen wollte. So führten sie einen
überallhin, sogar in die Dusche. Teils gewöhnte man sich daran, ihre Hände so
an sich zu spüren, teils aber auch nicht. Dennis ging voraus und öffnete die
Tür zwischen dem Einzelhaftflur und dem Rest des H-Flügels und dann die zweite,
äußere Tür in den Gang, der durch die allgemeine Bevölkerung zu den Käfigen
führte. Es war fast zwei Jahre her, dass Carter außerhalb des H-Flügels
gewesen war - H für »Höllenloch«, H für »Hau mir deinen Stock noch mal auf
meinen schwarzen Arsch«, H für »Hey, Mama, bald werde ich Jesus sehen« -, und
obwohl er den Kopf gesenkt hielt, ließ er den Blick verstohlen hin und her
wandern, und sei es nur, damit seine Augen einmal etwas Neues zu sehen bekämen.
Aber das alles war immer noch Terrell, ein Labyrinth aus Beton und Stahl und
schweren Türen, und die Luft war erfüllt vom dumpfen, sauren Geruch der Männer.
    Im Besuchsraum meldeten sie sich beim
diensthabenden Wärter und betraten dann einen leeren Käfig. Die Luft drinnen
war deutlich wärmer und roch so stark nach Scheuermittel, dass Carter die Augen
tränten. Pincher schloss die Handschellen auf, und während Dennis die Spitze
seines Schlagstocks an die weiche Stelle unter Carters Kiefer drückte, ketteten
sie seine Hände vorn wieder zusammen, und die Füße ebenfalls. Überall an der
Wand hingen Schilder, auf denen stand, was Carter tun durfte und was nicht; er
hatte keine Lust, sich die Mühe zu machen, eins davon zu lesen oder auch nur
anzuschauen. Sie schoben ihn zum Stuhl und gaben ihm den Telefonhörer. Carter
konnte ihn nur ans Ohr halten, wenn er die Knie halb bis an die Brust hob -
wieder knackte es in seinen Kniegelenken - und die Kette straff wie einen
Reißverschluss über den Oberkörper spannte.
    »Letztes Mal brauchte ich keine Ketten zu
tragen«, stellte er fest.
    Pincher kläffte ein gehässiges Lachen hervor.
»Tut mir leid - haben wir vergessen, dich nett zu fragen, ob es okay ist? Leck
mich am Arsch, Carter. Du hast zehn Minuten.«
    Sie gingen, und Carter wartete darauf, dass die
Tür auf der anderen Seite sich öffnete, damit er sehen konnte, wer ihn nach all
der Zeit besuchte.
     
    Special Agent Brad Wolgast hasste Texas. Er
hasste alles hier.
    Er hasste das Wetter, das eben noch heiß wie im
Backofen und im nächsten Augenblick eiskalt war, während die feuchte Luft sich
anfühlte, als habe man ein nasses Handtuch auf dem Kopf. Er hasste die Landschaft,
angefangen bei den Bäumen, die krakelig und erbärmlich aussahen, die Äste so
knorrig wie aus einem Kinderbuch von Dr. Seuss, bis hin zu diesem flachen,
windigen Nichts. Er hasste die Reklametafeln und die Schnellstraßen und die
gesichtslosen Vororte und die texanische Flagge, die über allem wehte, immer so
groß wie ein Zirkuszelt. Er hasste die riesigen Pick-ups, mit denen alle
herumfuhren, auch wenn der Liter Benzin drei Dollar kostete und die Welt sich
langsam zu Tode dünstete wie eine Packung Erbsen in der Mikrowelle. Er hasste
die Stiefel und die Gürtelschnallen und die Art, wie sie hier redeten, als
säßen sie von morgens bis abends lassoschwingend im Sattel, statt Zähne zu
reinigen und Versicherungen zu verkaufen und ihre Bücher zu führen wie die
Leute überall auf der Welt.
    Und vor allem hasste er es, weil seine Eltern
ihn gezwungen hatten, hier zu leben, damals auf der Junior High. Wolgast war
vierundvierzig - immer noch ganz gut in Form, aber ein paar Wehwehchen und
schütteres Haar waren nicht mehr zu verbergen. Die sechste Klasse lag lange
zurück und war letztlich Schnee von gestern, aber trotzdem: Als er jetzt mit
Doyle den Highway 59 hinauffuhr, die Hauptverbindung zwischen Houston und
Dallas, und das frühlingshafte Texas sich ringsumher erstreckte, fühlte die
Wunde sich wieder ganz frisch an. Texas, das kotelettförmige Elend von der
Größe eines Staates: Gerade noch hatte er als wunschlos glücklicher Junge in
Oregon auf dem Pier in der Mündung des Coos River geangelt und endlose,
unbeschwerte Stunden lang mit seinen Freunden in den Wäldern hinter ihrem Haus
gespielt, und im nächsten Augenblick steckte er im Großstadtsumpf von Houston,
wohnte in

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