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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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Fleckchen Sommergras am Rande des Schussfelds.
Sara ritt geradewegs auf das kleine Tier zu und sprang aus dem Sattel, und in
einer schnellen, gewandten Bewegung warf sie das Lamm auf den Rücken und
schlang das Seil dreimal um seine Beine. Der letzte Rest der Herde zog jetzt
durch das Tor, eine wallende Woge von Pferden und Schafen und Reitern auf dem
Pfad, der an der Westmauer entlang zu den Stallungen führte. Sara richtete sich
auf und schaute zu Peter hoch, und ihre Blicke trafen sich für einen Moment.
Bei anderer Gelegenheit, dachte er, hätte sie jetzt gelächelt. Er sah zu, wie
sie das Lamm in Brusthöhe hob und quer über den Pferderücken legte. Mit einer
Hand hielt sie es fest und schwang sich wieder in den Sattel. Noch einmal
trafen sich ihre Blicke, lange genug, um einen Satz zu übermitteln: Ich
hoffe auch, dass Theo nicht kommt. Bevor Peter weiter
darüber nachdenken konnte, stieß Sara dem Pferd die Absätze in die Flanken und
ritt durch das Tor. Peter war allein.
    Warum taten sie das?, fragte Peter sich, wie er
es sich in all den Nächten gefragt hatte, in denen er hier gestanden hatte.
Warum kamen sie wieder nach Hause, diejenigen, die befallen worden waren? Welche
Macht steckte hinter diesem mysteriösen Impuls? Eine letzte, melancholische
Erinnerung an die Person, die sie einmal gewesen waren? Kamen sie nach Hause,
um auf Wiedersehen zu sagen? Ein Viral, hieß es, hatte keine Seele. Als Peter
mit acht Jahren aus der Zuflucht entlassen worden war, hatte die Lehrerin ihm
das alles folgendermaßen erklärt: In ihrem Blut war ein winzig kleines Wesen,
das man Virus nannte, und es stahl ihnen die Seele. Das Virus drang durch einen
Biss in sie ein, normalerweise in den Hals, aber nicht immer, und wenn es in
eine Person hineingelangt war, verschwand die Seele und ließ den Körper für
alle Zeit auf der Erde zurück. Die Person, die sie gewesen war, gab es nicht
mehr. Das war eine unumstößliche Tatsache; die eine Wahrheit, von der sich alle
anderen Wahrheiten ableiteten. Ebenso gut hätte Peter sich fragen können, was
den Regen dazu brachte, vom Himmel zu fallen. Aber hier auf seinem Posten, in
der herabsinkenden Dämmerung der siebten und letzten Nacht der Gnade, nach der
sein Bruder für tot erklärt, sein Name in den Stein gemeißelt und seine Habe
ins Lagerhaus geschafft werden würde, wo man sie flicken und reparieren würde,
um sie als Gemeingut zu verteilen - hier stellte er sich diese Frage. Warum
kam ein Viral nach Hause, wenn er keine Seele hatte?
    Die Sonne stand jetzt nur noch eine Handbreit
über dem Horizont und sank schnell auf die welligen Konturen des Vorgebirges
hinab, das dort ins Tal überging. Selbst im Hochsommer schienen die Tage auf
diese Weise zu enden: fast wie mit einem Absturz. Peter beschirmte seine Augen
vor dem grellen Licht. Irgendwo da draußen - jenseits des von gefällten Bäumen
locker übersäten Schussfelds, hinter der Weide und der Müllkippe mit ihren
Bergen und Gruben, hinter dem von kümmerlichem Wald bedeckten Hügelland -
lagen die Ruinen von Los Angeles, und noch weiter hinten war das unvorstellbare
Meer. Als Peter klein war und in der Zuflucht lebte, hatte er in der Bibliothek
davon erfahren. Man hatte zwar schon vor langer Zeit entschieden, dass die
meisten der Bücher, die von den Erbauern hinterlassen worden waren, keinen Wert
hatten und womöglich die Kleinen verwirren konnten, die nichts über die Virais
wissen und auch nicht erfahren durften, was mit der Welt aus der Zeit Davor
geschehen war. Aber ein paar hatte man doch behalten. Manchmal hatte die
Lehrerin ihnen daraus vorgelesen, Geschichten von Kindern und Feen und
sprechenden Tieren, die in einem Wald hinter den Türen eines Schranks lebten,
oder sie hatten sich selbst ein Buch aussuchen dürfen, um sich die Bilder
anzusehen und selbst darin zu lesen, so gut sie konnten. Die
Meere um uns herum - das war Peters Lieblingsbuch
gewesen, das er sich immer wieder ausgesucht hatte. Der Einband war verblichen
gewesen, die Seiten hatten feucht gerochen und sich kühl angefühlt, und der
gebrochene Rücken wurde von gelben Klebstreifen zusammengehalten, die sich an
den Rändern kräuselten. Vorn auf dem Deckel hatte der Name des Autors
gestanden, Ed. Time Life, und auf jeder einzelnen, wunderbaren Seite waren Bilder
und Fotos und Karten gewesen. Eine Karte hieß »Die Welt«, und das bedeutete:
Alles. Und der größte Teil der »Welt« bestand aus Wasser. Peter hatte die
Lehrerin gebeten, ihm beim Lesen

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