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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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Die
Jüngste, von der Peter wusste, war die kleine Boyes gewesen - Sharon? Shari?
Mit neun Jahren war sie befallen worden, damals in der Dunklen Nacht. Die
restliche Familie war gleich gestorben, entweder bei dem Erdbeben oder bei dem
Angriff, der danach gekommen war, und weil niemand mehr da war, der für sie
auf der Mauer stehen konnte, hatte Peters Onkel Willem als First Captain diese
furchtbare Aufgabe übernommen. Viele, wie die kleine Boyes, waren vollständig
befallen, wenn sie zurückkamen. Andere waren mitten im Übergang; krank und von
Krämpfen geschüttelt, rissen sie sich die Kleider vom Leib, als sie torkelnd
in Sicht kamen. Die am weitesten Fortgeschrittenen waren auch am
gefährlichsten. Mehr als ein Sohn, Vater oder Onkel war dabei schon zu Tode
gekommen. Aber meistens leisteten sie keinen Widerstand. Meistens standen sie
einfach vor dem Tor, starrten blinzelnd in die Scheinwerfer und warteten auf
den Schuss. Peter nahm an, dass ein Teil ihrer selbst sich immer noch gut
genug daran erinnerte, ein Mensch gewesen zu sein, und dass sie deshalb
einfach sterben wollten.
    Sein Vater kam nie zurück, und das bedeutete, er
war tot, getötet von den Virais draußen in den Darklands, an einem Ort namens
Milagro. Er hatte behauptet, er habe dort einen Walker gesehen, eine einsame
Gestalt, die dort unter dem Mondhimmel durch die Schatten gehuscht war, kurz
bevor die Virais angriffen. Aber da hatte ihm schon niemand mehr geglaubt: Der
Haushalt und sogar Old Chou hatten sich gegen die Langen Ritte gestellt, und
Peters Vater war in Ungnade gefallen und hatte seine Stellung aufgegeben, um
auf seine geheimnisvollen, einsamen Expeditionen außerhalb der Mauer gehen zu
können, deren expandierende Kreise für Peter ausgesehen hatten wie die Probe
für irgendetwas Endgültiges. Auf eine so kühne Behauptung kam er sicher nur,
weil sein Vater nicht von seinen Ausritten abzuhalten gewesen war. Der letzte
Walker, der zurückgekommen war, war der Colonel gewesen. Das war fast dreißig
Jahre her, und er war inzwischen ein alter Mann. Mit seinem mächtigen weißen
Bart und seinem windgegerbten Gesicht, dessen Haut braun und dick war wie
gegerbtes Leder, schien er fast so alt wie Old Chou zu sein, oder sogar so alt
wie Auntie, die Letzte der Ersten. Ein einzelner Walker, nach all den Jahren?
Unmöglich.
    Selbst Peter hatte nicht gewusst, was er glauben
sollte - bis vor sechs Tagen.
    Als er jetzt im verblassenden Licht auf dem
Laufsteg über der Mauer stand, wünschte Peter unversehens, seine Mutter lebte
noch, damit er über all das reden könnte. Das wünschte er sich oft. Sie war
eine Jahreszeit nach dem letzten Ritt seines Vaters krank geworden, so
allmählich, dass Peter den rasselnden Husten tief in ihrer Brust zuerst gar
nicht bemerkt und auch nicht gesehen hatte, wie dünn sie wurde. Als Krankenschwester
hatte sie wahrscheinlich nur zu genau gewusst, was mit ihr passierte. Wie der
Krebs, der so viele geholt hatte, sich mörderisch in ihr ausbreitete. Aber das
hatte sie Peter und Theo verheimlicht, so lange sie konnte. Am Ende war von
ihr kaum mehr übrig gewesen als ein Sack Haut mit Knochen, der um jeden
einzelnen Atemzug rang. Ein guter Tod, das fanden alle, zu Hause im Bett zu
sterben wie Prudence Jaxon. Aber Peter war in den letzten Stunden an ihrer
Seite gewesen und wusste, wie furchtbar es für sie gewesen war, wie sehr sie
gelitten hatte. Nein, so etwas wie einen guten Tod gab es nicht.
    Die Sonne schob sich jetzt hinter den Horizont,
und die goldene Straße, die sie quer durch das Tal dort unten legte,
verblasste. Ein tiefes Blauschwarz färbte den Himmel und sog die Dunkelheit
auf, die aus dem Osten heranfloß. Peter spürte, dass es kälter wurde. Die
Abkühlung kam so rasch und heftig, dass alles einen Moment lang von einer
vibrierenden Stille erfüllt war. Die Männer und Frauen der Nachtschicht - Ian
Patal und Ben Chou und Galen Strauss und Sunny Greenberg und die andern -
stiegen jetzt die Leitern herauf. Sie begrüßten einander mit Zurufen und
liefen polternd und dröhnend zu den Feuerposten. Alicia kläffte von unten ihre
Befehle herauf und ließ die Läufer auseinanderstieben. Ihre Stimme war ein
kleiner Trost. Alicia war es, die in all den Nächten des Wartens an Peters
Seite gestanden hatte. Sie war nie weit weggegangen, und er hatte immer
gewusst, dass sie da war. Und wenn Theo zurückkommen sollte, würde Alicia sich
mit Peter zusammen an der Mauer hinunterlassen, um zu tun, was getan

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