Cronin, Justin
der Namen zu helfen: Atlantik, Pazifik,
Indischer Ozean, Polarmeer. Stunde um Stunde saß er auf seiner Matte im Großen
Saal mit dem Buch auf dem Schoß und blätterte Seite um Seite um, den Blick
fasziniert auf diese blauen Flächen auf den Karten gerichtet. Die Welt, begriff
er, war rund. Eine große Kugel aus Wasser - ein Tautropfen, der durch den
Himmel raste -, und das ganze Wasser hing zusammen. Der Frühlingsregen und der
Schnee des Winters, das Wasser, das aus den Pumpen strömte, und sogar die
Wolken über ihren Köpfen - das alles war auch Teil der Ozeane. Wo ist das
Meer?, fragte Peter eines Tages. Kann ich es sehen? Aber die Lehrerin lachte
nur, wie sie es immer tat, wenn man ihr zu viele Fragen stellte, und tat sein
Anliegen mit einem Kopfschütteln ab. Vielleicht gibt es das
Meer, vielleicht auch nicht. Das ist nur ein Buch, kleiner Peter. Zerbrich du
dir nicht den Kopf über Ozeane und solche Sachen.
Aber Peters Vater hatte das Meer gesehen: sein
Vater, der große Demetrius Jaxon, Oberhaupt des Haushalts, und Peters Onkel
Willem, der First Captain der Wache. Gemeinsam hatten sie die Langen Ritte angeführt,
weiter, als irgendjemand seit der Zeit Davor jemals gekommen war. Ostwärts, der
Morgensonne entgegen, und nach Westen bis zum Horizont und noch weiter, in die
leeren Städte der Zeit Davor. Immer war sein Vater dann zurückgekommen und
hatte von den großen und schrecklichen Dingen erzählt, die er gesehen hatte;
aber nichts sei wunderbarer als das Meer an einem Ort, den er Long Beach
nannte. Stellt euch vor, erzählte Peters Vater ihnen beiden - denn Theo war
auch dabei; die beiden Jaxon-Brüder saßen am Küchentisch in ihrem kleinen
Haus, als ihr Vater zurückkam. Sie lauschten hingerissen und tranken seine
Worte in sich hinein wie Wasser. Stellt euch einen Ort vor, wo der Boden
einfach aufhört, und dahinter ein endlos wogendes Blau, als hätte sich der
Himmel auf den Kopf gestellt. Und darin versunken die rostigen Gerippe großer
Schiffe, tausend mal tausend, eine ganze versunkene Stadt, von Menschen
geschaffen, die da aus dem Wasser des Ozeans ragte, so weit das Auge reichte.
Ihr Vater war kein Mann der vielen Worte; er kommunizierte mit sparsamen Sätzen
und teilte auch seine Zuneigung auf diese Weise mit: eine Hand auf der
Schulter, ein Stirnrunzeln zur rechten Zeit oder, in Momenten der
Zufriedenheit, ein knappes Nicken - und damit erübrigten sich weitere Reden für
ihn. Aber wenn er von den Langen Ritten erzählte, erwachte seine Stimme. Wenn
man am Rand des Ozeans stand, sagte sein Vater, dann fühlte man die Größe der
Welt, und man spürte, wie still und leer sie war, wie allein, ohne dass ein
Mann oder eine Frau sie ansah oder ihren Namen aussprach in all den vielen
Jahren.
Peter war vierzehn, als sein Vater vom Meer
zurückkam. Wie alle männlichen Jaxons, seinen älteren Bruder Theo
eingeschlossen, hatte Peter seine Lehre bei der Wache gemacht und darauf
gehofft, eines Tages seinen Vater und seinen Onkel auf den Langen Ritten zu
begleiten. Aber dazu war es nie gekommen. Im darauffolgenden Sommer war der
Spähtrupp an einem Ort, den sein Vater Milagro nannte, tief in der östlichen
Wüste in einen Hinterhalt geraten. Drei Seelen waren verloren, unter ihnen
Onkel Willem - und danach gab es keine Langen Ritte mehr. Die Leute sagten,
sein Vater sei schuld, er sei zu weit gegangen, habe zu viel riskiert, und
wofür? Seit Jahren hatte man von keiner der anderen Kolonien gehört. Die
letzte, Taos, war vor fast achtzig Jahren gefallen. Im letzten Funkspruch -
damals, vor der Trennung der Gewerbe und dem Einen Gesetz, als Funkgeräte noch
erlaubt waren - hatte es geheißen, ihr Kraftwerk falle aus, die Scheinwerfer
blieben dunkel. Sicher waren sie überrannt worden wie alle andern. Was erhoffte
Demo Jaxon sich davon, dass er die Sicherheit der Lichter immer wieder für
Monate verließ? Was hoffte er zu finden, da draußen in der Dunkelheit? Es gab
immer noch welche, die vom Tag der Rückkehr redeten, wenn die Army
wiederkommen würde, um sie zu holen. Aber auf all seinen Reisen war Demo Jaxon
nie auf Soldaten gestossen. Die Army gab es nicht mehr. Und inzwischen waren so
viele aus der Kolonie gestorben, nur um herauszufinden, was sie alle schon
wussten.
Tatsächlich war Peters Vater verändert, nachdem
er von seinem letzten Langen Ritt zurückgekommen war. Da war eine große, müde
Traurigkeit, als sei er ganz plötzlich viel älter geworden. Als sei ein Teil
von ihm mit Willem in
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