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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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in den
letzten sechs Nächten, Peter allein. Die Plattform maß fünf Meter im Quadrat
und war umgeben von einem überhängenden Netz aus Stahlseilen. Links von Peter,
noch einmal dreißig Meter hoch aufragend, stand eine der zwölf Lichtanlagen,
rasterförmig angeordnete Reihen von Natriumdampflampen, die jetzt, am Ende des
Tages, noch nicht brannten. Zu seiner Rechten ragte der Kran mit Flaschenzug
und Seilen über die Netze. Peter würde ihn benutzen, um sich zum Fuß der Mauer
hinunterzulassen, sollte sein Bruder zurückkommen.
    Hinter ihm, wie eine tröstliche Wolke aus
Geräuschen und Gerüchen und Betriebsamkeit, lag die Kolonie mit ihren Häusern
und Ställen und Feldern und Treibhäusern und Pferchen. Hier hatte Peter sein
ganzes Leben verbracht. Auch jetzt, als er sich abwandte und der heimkehrenden
Herde entgegenschaute, konnte er im Geiste jeden Meter dort begehen. Er hatte
eine dreidimensionale Karte im Kopf, komplett mit allen Sinneseindrücken
ausgestattet: der Lange Weg vom Tor zur Zuflucht, vorbei am Arsenal mit dem
musikalischen Klang von Hammer und Metall und der Hitze des Schmelzofens, die
Felder mit den Reihen von Mais und Bohnen, die Rücken der Arbeiter, die sich
tief über die schwarze Erde beugten und gruben und hackten, und jenseits des
Obstgartens die Treibhäuser, deren Inneres im feuchten Nebel verborgen lag. Die
Zuflucht mit den zugemauerten Fenstern und den Stacheldrahtrollen, die die
Stimmen der Kleinen, die im Hof spielten, nicht zurückhalten konnten. Der
Sonnenfleck, eine breite, halbkreisförmige Plaza aus sonnengewärmten
Pflastersteinen, auf der die Handelstage und die öffentlichen Sitzungen des
Haushalts abgehalten wurden. Die Pferche und Scheunen und Weiden und
Stallungen mit den Geräuschen und Gerüchen der Tiere. Das Lagerhaus, wo Walt
Fisher über die Stände mit Kleidern und Lebensmitteln und Werkzeug und
Brennmaterial herrschte. Die Molkerei, die Weberei, das Pumpwerk und das
summende Bienenhaus, der alte Wohnwagenpark, in dem niemand mehr wohnte, und
dahinter, noch hinter den letzten Häusern des Nordviertels und des Großen
Geräteschuppens, wo Nord- und Ostmauer aufeinandertrafen und ein kleiner
Tunnel in den Stein geschlagen war, im ewig kühlenden Schatten, standen die
Akkus: drei graue Blöcke aus summendem Metall, umwickelt mit Spulen aus Draht
und Rohren, immer noch auf den im Boden versunkenen Rädern der
Sattelschlepper, die sie in der Zeit Davor auf den Berg gezogen hatten.
    Die Herde war über die Kuppe gekommen. Peter sah
von oben zu, wie sie heranzog, eine drängelnde, blökende Masse, die über die
Höhe strömte wie eine Flüssigkeit, gefolgt von den Reitern, sechs insgesamt,
hoch auf ihren Pferden. Die Herde bewegte sich geschlossen auf ihn zu, und ihre
Hufe wirbelten eine Staubwolke auf. Als die Reiter unter seinem Posten
hindurchritten, nickte jeder von ihnen kurz und knapp zu ihm herauf, wie sie es
auch an den letzten sechs Abenden getan hatten.
    Kein Wort wurde zwischen ihnen gewechselt. Peter
wusste, es brachte Unglück, mit jemandem zu sprechen, der darauf wartete,
jemandem den Gnadentod zu geben.
    Einer der Reiter löste sich von den andern. Es
war Sara Fisher. Sara war Krankenschwester. Peters Mutter hatte sie
ausgebildet. Aber wie so viele Leute hatte sie mehr als einen Job. Und Sara war
zum Reiten wie geschaffen: schlank, aber kräftig, geschmeidig im Sattel und
flink am Zügel. Sie trug wie alle Reiter ein weites T-Shirt mit einem Gürtel um
die Taille und darunter Leggings aus geflicktem Jeansstoff. Ihr Haar, ein
sonnenwarmes Blond, war knapp über den Schultern abgeschnitten und nach hinten
gebunden; eine einzelne Strähne wehte über ihre dunklen, tiefliegenden Augen.
Ein lederner Armschutz umschloss ihren linken Arm vom Ellenbogen bis zum
Handgelenk, und der Bogen, einen Meter lang, war diagonal über ihren Rücken
geschlungen wie ein einzelner, wippender Flügel. Es hieß, ihr Pferd, ein
fünfzehnjähriger Wallach namens Dash, bevorzuge sie vor allen andern; es lege
die Ohren zurück und schlage mit dem Schwanz, wenn irgendjemand sonst versuchte,
aufzusitzen. Nicht so bei Sara; wenn sie im Sattel saß, bewegte es sich mit
entgegenkommender Anmut, und Pferd und Reiterin schienen miteinander eins zu
werden.
    Peter sah, wie sie durch das Tor zurückkam und
gegen den Strom ins offene Gelände hinausritt. Dann sah er den Grund: Ein
einzelnes Lamm, eins von denen, die im Frühjahr geboren worden waren, war
davonspaziert, angelockt von einem

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