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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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dieser Wüste geblieben. Peter wusste, dass sein Vater
Willem am meisten geliebt hatte, mehr als ihn selbst, als Theo oder sogar ihre
Mutter. Sein Vater trat als Oberhaupt des Jaxon-Haushalts zurück und gab seinen
Platz an Theo weiter, und er fing an, allein auszureiten. Er zog im
Morgengrauen mit den ersten Herden hinaus und kam erst wenige Minuten vor der
Zweiten Abendglocke zurück. Soweit Peter wusste, sagte er niemandem, wohin er
ging. Als er seine Mutter danach fragte, konnte sie nur sagen, sein Vater lebe
jetzt in seiner eigenen Zeit. Wenn er dazu bereit wäre, würde er wieder zu
ihnen zurückkommen.
    An dem Morgen, als sein Vater zu seinem letzten
Ritt aufbrach, stand Peter - er war inzwischen Läufer der Wache - auf dem
Laufsteg beim Haupttor und sah, wie sein Vater sich bereit machte. Die
Scheinwerfer waren eben erloschen, und gleich würde die Morgenglocke läuten. Es
war eine ruhige Nacht gewesen, ohne Auffälligkeiten, und eine Stunde vor der
Morgendämmerung hatte leichter Schneefall eingesetzt. Langsam brach der Tag
an, grau und kalt. Als die Herde sich am Tor sammelte, erschien Peters Vater
auf seinem Pferd, einer großen Rotschimmelstute, die er immer ritt. Sie hieß
Diamond, wegen der Blesse auf ihrer Stirn: ein einsamer weißer Fleck unter den
wehenden Haaren einer langen Stirnlocke. Sie war kein besonders schnelles
Pferd, sagte sein Vater immer, aber treu und unermüdlich, und sie konnte flink
sein, wenn es nötig war. Jetzt zügelte sein Vater sie hinter der Herde und
wartete darauf, dass das Tor sich öffnete, und Peter sah, wie Diamond einen
kurzen Quickstep tanzte und den Schnee flachstampfte. Dampfwolken strömten aus
ihren Nüstern und umwehten ihr langes, würdevolles Gesicht. Sein Vater beugte
sich vor und tätschelte ihren Hals, und Peter sah, dass seine Lippen sich
bewegten, als er ihr ein paar sanfte, aufmunternde Worte ins Ohr flüsterte.
    Wenn Peter an diesen Morgen vor fünf Jahren
zurückdachte, fragte er sich noch immer, ob sein Vater gewusst hatte, dass er
dort auf der schneeglatten Mauer stand und ihn beobachtete. Er hatte keinen
Blick zu ihm heraufgeworfen, und Peter hatte nicht versucht, ihn auf sich aufmerksam
zu machen. Als er sah, wie sein Vater mit Diamond sprach und mit beruhigender
Hand ihren Hals streichelte, hatte Peter an die Worte seiner Mutter gedacht und
gewusst, dass sie recht hatte. Sein Vater lebte jetzt in seiner eigenen Zeit.
In den letzten Augenblicken vor der Morgenglocke zog Demo Jaxon immer seinen
Kompass aus dem Beutel an seiner Hüfte, warf einen prüfenden Blick darauf und
klappte ihn wieder zu. Dann rief er zur Wache hinauf und meldete sich ab.
»Einer draußen!«, rief er mit seiner tiefen, volltönenden Stimme aus breiter
Brust. »Einer zurück!«, antwortete der Torwächter dann. Immer das gleiche
Ritual, gewissenhaft eingehalten. Aber nicht an jenem Morgen. Erst als das Tor
sich geöffnet hatte und sein Vater hinausgeritten war, als er Diamond auf die
Straße zum Kraftwerk lenkte, weg von den Weiden, bemerkte Peter, dass sein Vater
keinen Bogen bei sich hatte und dass die Scheide an seinem Gürtel leer war.
    Als an diesem Abend die Zweite Glocke läutete,
war er nicht da. Peter erfuhr, dass sein Vater am Mittag beim Kraftwerk Wasser
geholt hatte und dann unter den Windrädern hindurch in die offene Wüste
hinausgeritten war. Eine Mutter konnte nicht für eins ihrer eigenen Kinder
Wache stehen und eine Frau nicht für ihren Ehemann. Das stand zwar nirgends
geschrieben, aber die Aufgabe, jemandem den Gnadentod zu geben, war bisher
naturgemäß den Vätern und Brüdern und ältesten Söhnen zugefallen. Sie hatten
diese Pflicht vom Tag Eins an ausgeübt. Deshalb hatte Theo für ihren Vater auf
der Mauer gestanden, wie Peter jetzt für Theo dort stand - und so, wie jemand,
vielleicht sein eigener Sohn, irgendwann für Peter dort stehen würde, sollte
dieser Tag je kommen.
    Denn wenn der Betreffende nicht tot war, wenn er
befallen war, dann kam er wieder nach Hause. Es konnte drei Tage dauern, fünf,
sogar eine Woche, aber nie länger. Die meisten waren Wächter, die auf der Suche
nach Brauchbarem oder bei einem Abstecher zum Kraftwerk befallen worden waren.
Es traf aber auch Reiter, die mit der Herde unterwegs waren, oder die
Schwerarbeitercrews, die im Wald Holz fällten, die Befestigungsmauer
ausbesserten oder den Müll auf die Halde schleppten. Sogar am helllichten Tag
wurden Leute getötet oder befallen. Man war niemals wirklich sicher.

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