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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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nicht übers Herz, in die Zuflucht zu gehen und Mausami zu sagen, was
mit Theo passiert war. Sie würde es sowieso erfahren. Michael war da, und Sara
auch. Sie nähte die Verletzung an seinem Ellenbogen, während er mit
schmerzverzerrtem Gesicht auf einem Stein saß und sich betrogen fühlte, weil
die tranceartige Betäubung, die der Verlust seines Bruders auslöste, jetzt, da
seine Haut mit einer Nadel durchstochen wurde, nicht wirkte. Sara legte ihm
einen richtigen Verband an, umarmte ihn kurz und brach in Tränen aus. Als es
dunkel wurde, ging die Menge auseinander und machte ihm Platz, und bei der
Zweiten Abendglocke stieg Peter auf die Mauer, um seinem Bruder den Gnadentod
zu geben.
     
    Er ließ Alicia unten an der Leiter stehen und
versprach ihr, nach Hause zu gehen und zu schlafen. Aber nach Hause wollte er
zu allerletzt. Nur wenige unverheiratete Männer wohnten noch in der Kaserne; es
war dreckig dort und stank wie im Kraftwerk. Aber dort würde er von jetzt an
wohnen. Er musste nur ein paar Sachen aus dem Haus holen, das war alles.
    Die Morgensonne schien schon warm auf seine
Schultern, als er bei sich zu Hause ankam - einem Fünf-Zimmer-Cottage, gleich
neben der Östlichen Wiese. Es war das einzige Zuhause, das Peter gekannt hatte,
seit er aus der Zuflucht gekommen war. Seit dem Tod ihrer Mutter waren er und
Theo eigentlich nur noch zum Schlafen dort gewesen, und sie hatten wenig dafür
getan, das Haus in Ordnung zu halten. Das Chaos hatte Peter immer gestört:
schmutziges Geschirr im Spülbecken, Kleidungsstücke auf dem Boden verstreut,
und alles von einer klebrigen Dreckschicht überzogen. Trotzdem hatte er es nie
über sich gebracht, etwas daran zu ändern. Ihre Mutter hatte das Haus immer
tadellos in Schuss gehalten; sie hatte die Böden gewischt, die Teppiche
geklopft, die Asche aus dem Herd gefegt und den Abfall entsorgt. Im Erdgeschoss
waren zwei Schlafzimmer, in denen er und Theo schliefen, das Zimmer seiner
Eltern lag im ersten Stock unter dem Dach. Peter ging in sein Zimmer und
stopfte rasch ein paar Kleidungsstücke für die nächsten Tage in einen Rucksack.
Theos Sachen würde er später durchsehen, um zu entscheiden, was er für sich
behielt, bevor er den Rest ins Lagerhaus schaffte. Dort würden die Kleider und
Schuhe seines Bruders in Regale geräumt und später dann an andere verteilt
werden. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Theo diese Aufgabe übernommen, weil er
wusste, dass Peter es nicht konnte. An einem Wintertag fast ein Jahr später
hatte Peter eine Frau - Gloria Patal - mit einem Schal gesehen, den er
wiedererkannte. Gloria stand an einem Marktstand und sortierte Honiggläser.
Der Schal mit den Fransen stammte ohne Zweifel von seiner Mutter. Peter war so
verstört gewesen, dass er die Flucht ergriffen hatte, als sei hier ein Frevel
begangen worden, an dem er beteiligt war.
    Als er gepackt hatte, ging er in das größte
Zimmer des Hauses, eine Wohnküche mit freiliegenden Deckenbalken. Der Herd
hatte seit Monaten nicht mehr gebrannt, und der Holzstapel hinter dem Haus war
inzwischen wahrscheinlich voller Mäuse. Alles war von einer schmierigen
Staubschicht überzogen, als ob hier kein Mensch mehr wohnte. Tja, dachte er, so
war es nun auch.
    Zuletzt zog es ihn die Treppe hinauf zum Zimmer
seiner Eltern. Die Schubladen der kleinen Kommode waren leer, die durchgelegene
Matratze nicht bezogen, und in den Fächern im alten Kleiderschrank hingen
filigrane Spinnennetze, die in der Zugluft zitterten, als er die Türen öffnete.
Der kleine Nachttisch seiner Mutter, auf dem immer ein Becher Wasser neben
ihrer Brille gestanden hatte - übrigens der einzige Gegenstand, den Peter gern
behalten hätte, obwohl das nicht möglich gewesen war -, war von gespenstischen
kreisförmigen Flecken bedeckt. Seit Monaten hatte niemand die Fenster geöffnet,
und die eingesperrte Luft roch abgestanden. Noch etwas, das Peter durch
Vernachlässigung entehrt hatte. Es stimmte: Er hatte sie im Stich gelassen,
sie alle.
    In der Morgenhitze schleppte er seinen Rucksack
zur Tür hinaus. Überall war Betrieb: Aus den Ställen kam das Stampfen und
Wiehern der Pferde, in der Schmiede ertönten klingende Hammerschläge. Die Rufe
der Tagschicht hallten von der Mauer, und als er in die Altstadt kam, hörte er
das Quieken und Lachen der spielenden Kinder in der Zuflucht. Das war die
Morgenpause - eine beglückende Stunde lang durften die Kinder wie die Mäuse
fröhlich durcheinanderlaufen. Er erinnerte sich plötzlich an

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