Cronin, Justin
Augenblick auftauchte,
war kein Zufall, begriff Peter. Er wurde manipuliert.
»Okay«, sagte er nur. »Das werde ich wohl tun.«
»Ich hatte deinen Bruder wirklich gern«,
bekannte Jimmy jetzt. Anscheinend dachte er, seine Anwesenheit erfordere einen
Kommentar. »Und Karen auch.«
»Danke. Das höre ich oft.«
Diese Reaktion klang zu bitter, und Peter
bereute sie sofort, als er den verwirrten Ausdruck in Jimmys hakennasigem Gesicht
sah. Jimmy war Theos Freund gewesen, ein Second Captain, genau wie Theo, und er
wusste, was es hieß, einen Bruder zu verlieren. Connor Molyneau war fünf Jahre
zuvor bei einer Smoke-Jagd ums Leben gekommen, als sie einen Schwarm auf der
Oberen Weide eliminieren wollten. Nach Soo war Jimmy der älteste Offizier; er
war Mitte dreißig und hatte eine Frau und zwei Töchter. Schon vor Jahren hätte
er abtreten können, ohne dass jemand es ihm übelgenommen hätte, aber er hatte
es nicht getan. Manchmal brachte seine Frau Karen ihm warmes Essen auf die
Mauer. Das war ihm immer peinlich und trug ihm endlose Spötteleien von den
anderen Wächtern ein, aber alle sahen ihm an, dass es ihm gefiel.
»Tut mir leid, Jimmy.«
Jimmy zuckte die Achseln. »Schon gut. Glaub mir,
ich habe das auch durchgemacht.«
»Er sagt es, weil es stimmt, Peter. Dein Bruder
wurde von uns allen sehr geschätzt.« Mit dieser letzten Verlautbarung hob
Sanjay wichtigtuerisch das Kinn und sah Soo an. »Captain, hast du einen
Augenblick Zeit?«
Soo nickte, ohne Peter aus den Augen zu lassen.
»Ich mein's ernst«, sagte sie und fasste Peters Arm dicht über dem Ellenbogen.
»Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
Peter wartete einen Augenblick, um Abstand
zwischen sich und die drei zu bringen. Er war seltsam erregt. Hellwach, aber
orientierungslos. Dabei war das alles nur leeres Gerede gewesen, letzten Endes
nichts, was ihn hätte überraschen dürfen: die üblichen, verlegenen
Beileidsbekundungen, die er so gut kannte, und dann die Mitteilung, dass er
nun doch nicht dem Haushalt angehören würde - eine Nachricht, die ihn eigentlich
hätte erfreuen müssen, da er mit diesen täglichen Führungspflichten ohnehin
nichts zu tun haben wollte. Aber Peter hatte unter der Oberfläche dieser
Unterredung noch eine tiefere Strömung wahrgenommen. Er hatte den deutlichen
Eindruck, dass man an seinen Strippen zog, dass alle etwas wussten, was er
nicht wusste.
Er warf sich den Rucksack über die Schulter. Das
verdammte Ding war so gut wie leer. Er beschloss, doch noch nicht geradewegs
zur Kaserne zu gehen, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
Der Stein der Dunklen Nacht stand am hinteren
Ende des Sonnenflecks: ein birnenförmiger Granitblock, zweimal so hoch wie ein
Mann, grau-weiß mit juwelenartigen Einsprengseln von rosa Quarz. In diesen
Stein waren die Namen der Vermissten und der Toten eingemeißelt. Deshalb war er
hergekommen. Einhundertzweiundsechzig Namen: Es hatte Monate gedauert, sie alle
in den Stein zu hauen. Zwei ganze Familien - die Levines und die Darrells. Die
gesamte Boyes-Sippe, neun insgesamt. Scharen von Greenbergs und Patais und
Chous und Molyneaus und Strausses und Fishers und zwei Donadios - Lishs Eltern,
John und Angel. Die ersten Jaxons, deren Namen auf den Stein gekommen waren,
waren Daria und Taylor Jaxon, Peters Großeltern. Sie waren unter den Trümmern
ihres Hauses an der Nordmauer gestorben. Es fiel Peter leicht, sie sich als
alte Leute vorzustellen, denn sie waren seit fünfzehn Jahren tot, und ihr
ganzes Leben gehörte in die Zeit vor seiner Erinnerung, in eine Welt, die
Peter einfach als »früher« betrachtete. Tatsächlich aber war Taylor zum
Zeitpunkt des Erdbebens nicht viel älter als vierzig gewesen und Daria, Taylors
zweite Frau, gerade sechsunddreißig.
Der Stein war ursprünglich für die Opfer der
Dunklen Nacht gedacht gewesen, doch dann war es nur natürlich gewesen, diesen
Brauch fortzusetzen und die Namen der Toten und Verschollenen festzuhalten.
Zanders Name, sah Peter, war bereits eingemeißelt worden. Er stand nicht
allein da, sondern unter den Namen seines Vaters und seiner Schwester und der
Frau, mit der Zander vor Jahren verheiratet gewesen war, wie Peter sich jetzt
erinnerte. Es passte überhaupt nicht zu Zander, auch nur mit jemandem zu
sprechen, geschweige denn verheiratet zu sein, und deshalb hatte Peter sie ganz
vergessen. Die Frau hatte Janelle geheißen, und sie war im Kindbett mit ihrem
Baby zusammen gestorben, nur wenige Monate nach der Dunklen Nacht.
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