Cronin, Justin
einen sonnigen,
kalten Wintertag, an dem sie Wegschnappen gespielt hatten. Ihm war es mit
müheloser Leichtigkeit gelungen, den Stock einem viel größeren, älteren Jungen
abzunehmen - in seiner Erinnerung war es einer der Brüder Wilson gewesen. Und
er hatte ihn behalten, bis die Lehrerin in die Fausthandschuhe geklatscht und
mit den Armen gewedelt hatte, um sie alle wieder ins Haus zu scheuchen. Die
schneidend kalte Luft in seiner Lunge, das stumpfe Braun der Welt im Winter,
der Schweiß auf seiner Stirn, das tiefe Glücksgefühl, als er sich zwischen den
zugreifenden Händen seiner Angreifer hindurchgeschlängelt hatte - wie lebendig
hatte er sich da gefühlt! Peter suchte diese Erinnerung nach seinem Bruder ab -
sicher war Theo an diesem Wintermorgen doch unter den Kleinen gewesen, ein Teil
der galoppierenden Meute -, aber er fand keine Spur von ihm. Da, wo sein
Bruder hätte sein müssen, war eine Lücke.
Er kam zum Ausbildungslager. Drei breite Mulden
im Boden, zwanzig Meter lang und umgeben von hohen Erdwällen, die
unvermeidlich fehlgehende Bolzen und Pfeile und blindlings geworfene Messer
auffangen sollten. Am vorderen Ende der mittleren Grube standen fünf Leute in
Habachtstellung, drei Mädchen und zwei Jungen zwischen neun und dreizehn
Jahren, die zu Wächtern ausgebildet wurden. In ihrer starren Haltung und den
eifrigen Gesichtern sah Peter den gleichen bemühten Ernst, den er selbst
aufgebracht hatte, als er seine Ausbildung angefangen hatte, das gleiche
überwältigende Verlangen, sich selbst zu beweisen. Theo war drei Klassen über
ihm gewesen. Peter erinnerte sich an den Morgen, an dem sein Bruder als Läufer
ausgewählt worden war, an sein stolzes Lächeln, als er sich abwandte und zum
ersten Mal auf die Mauer stieg. Peter sonnte sich im Glänze seines Bruders und
er war mächtig stolz: Bald würde er Theo folgen.
Die Ausbilderin heute Morgen war Peters Cousine
Dana, Onkel Willems Tochter. Sie war acht Jahre älter als Peter. Nach der
Geburt ihrer ersten Tochter, Ellie, hatte sie den Wachdienst aufgegeben und im
Trainingscamp angefangen. Ihre Jüngste, Kat, war noch in der Zuflucht. Sie
ging in die erste Klasse, war groß für ihr Alter und so schlank wie ihre Mutter
und trug das lange schwarze Haar zu einem Wächterzopf geflochten.
Dana stand vor ihrer Gruppe und musterte sie mit
versteinerter Miene, als wähle sie ein Lamm für die Schlachtbank aus. Aber das
war Teil des Rituals.
»Was haben wir?«, fragte sie die Gruppe.
Sie antworteten wie aus einem Munde. »Einen
Schuss!«
»Woher kommen sie?«
»Sie kommen von oben!« Lauter jetzt.
Dana schwieg und wippte auf den Fersen zurück.
Sie sah Peter kommen und lächelte ihm betrübt zu, bevor sie sich stirnrunzelnd
wieder an ihre Schützlinge wandte. »Tja, das war grauenhaft. Ihr habt euch soeben
drei Extrarunden vor dem Essen verdient. In zwei Reihen antreten, den Bogen
hoch!«
»Was meinst du?«
Sanjay Patal. Peter war so in Gedanken versunken
gewesen, dass er den Mann nicht hatte kommen hören. Sanjay schaute mit
verschränkten Armen über die Gruben hinweg.
»Sie werden's schon lernen.«
Unter ihnen begannen die Rekruten mit dem
Morgendrill. Einer der Jüngsten, der kleine Darrell, schoss daneben, und sein
Pfeil bohrte sich mit dumpfem Schlag in den Zaun hinter der Zielscheibe. Die
andern lachten.
»Tut mir leid, das mit deinem Bruder.« Sanjay
drehte sich zu ihm hin. Er war schmächtig, machte aber einen kompakten
Eindruck. Er war stets glattrasiert, hatte grau gesprenkeltes, kurzgeschorenes
Haar und kleine weiße Zähne. Dichte, struppige Brauen überschatteten seine tiefliegenden
Augen. »Theo war ein guter Mann. Es hätte nicht passieren dürfen.«
Peter antwortete nicht. Was sollte er auch
sagen?
»Ich habe nachgedacht über das, was du mir
erzählt hast«, fuhr Sanjay fort. »Um ehrlich zu sein, habe ich das Ganze nicht
so recht verstanden. Die Sache mit Zander. Und was ihr in der Bibliothek
wolltet.«
Mit leisem Frösteln dachte Peter an die Lüge.
Sie alle hatten sich an die Abmachung gehalten, niemandem etwas von den
Gewehren zu erzählen, zumindest vorläufig nicht. Aber das war viel
komplizierter als erwartet, wie sich sehr schnell gezeigt hatte. Ohne die
Gewehre war ihre Geschichte voller Auslassungen, denn es ließ sich nicht
erklären, was sie auf dem Dach des Kraftwerks gesucht hatten, wie sie Caleb
gerettet hatten, wie Zander gestorben war, und warum sie in der Bibliothek
gewesen waren.
»Wir haben euch alles
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