Cronin, Justin
Vergangenheit
und Gegenwart vermischte, konnte sie jeden gemeint haben. Vielleicht hatte sie
von einem Mädchen gesprochen, das schon vor Jahren gestorben war.
Im selben Moment hörte er die Schreie vom
Haupttor, und dann brach die Hölle los.
26
Angefangen hatte es mit dem Colonel. So viel
konnte man in den ersten paar Stunden immerhin sagen.
Seit Tagen hatte ihn niemand mehr gesehen, weder
im Stall noch auf dem Sonnenfleck noch auf der Mauer, wo er nachts manchmal
erschien. Peter hatte ihn in den sieben Nächten, in denen er nach Theo Ausschau
gehalten hatte, nicht zu Gesicht bekommen, aber das hatte er nicht weiter
merkwürdig gefunden. Der Colonel kam und ging, wie es ihm passte, und manchmal
ließ er sich tagelang nicht blicken.
Eins wusste man allerdings - Hollis hatte es als
Erster gemeldet, doch andere hatten es bestätigt: Der Colonel war kurz nach
Halbnacht auf der Mauer erschienen, in der Nähe des Feuerpostens drei. Es war
eine stille, mondlose Nacht gewesen, ohne Sichtungen. Das offene Gelände vor
der Mauer hatte im Flutlicht der Scheinwerfer gelegen. Nur wenige Leute sahen
ihn dort stehen, und keiner dachte sich etwas dabei. Hey, da ist der Colonel,
hatten sie vielleicht gesagt. Der alte Knabe schafft es einfach nicht, sich
ganz zur Ruhe zu setzen. Schade, dass heute Nacht nichts los ist.
Er stand ein paar Minuten so herum, befingerte
seine Halskette aus Zähnen und starrte auf das leere Vorfeld hinunter. Hollis
nahm an, er sei gekommen, um mit Alicia zu sprechen, aber er wusste nicht, wo
sie war, und der Colonel sah auch nicht aus, als suche er sie. Er war nicht
bewaffnet, und er sprach mit niemandem. Als Hollis wieder hinschaute, war der
Mann weg. Einer der Läufer, Kip Darreil, behauptete später, er habe gesehen,
wie der Colonel die Leiter hinunterstieg und auf dem Weg zu den Stallungen
davonging.
Als ihn das nächste Mal jemand sah, rannte er
quer über das Schussfeld.
»Sichtung!«, schrie einer der Läufer. »Wir haben
Sichtung!« Hollis sah es, sah sie. Am
Rande des Vorfelds, ein Schwarm von dreien, der ins Licht sprang. Der Colonel
rannte geradewegs auf sie zu.
Sie fielen sofort über ihn her, verschluckten
ihn wie eine Welle, schnappend und fauchend, und oben auf der Mauer schwirrten
ein Dutzend Pfeile im hohen Bogen von den Sehnen. Bei der Entfernung hätte aber
höchstens ein Glückstreffer etwas ausrichten können.
Sie sahen zu, wie der Colonel starb.
Und dann sahen sie das Mädchen. Sie stand am
Rande des Schussfelds, eine einzelne Gestalt, die aus der Dunkelheit
hervortrat. Zuerst, berichtete Hollis, hielten alle sie für einen weiteren
Viral, und außerdem war in der allgemeinen Schießwut jeder bereit, auf alles
zu zielen, was sich bewegte. In einem Hagel von Pfeilen und Bolzen lief sie
über die Weidefläche auf das Haupttor zu. Einer traf sie an der Schulter und
wirbelte sie herum wie einen Kreisel. Aber sie kam trotzdem immer näher heran.
»Ich weiß es nicht«, gestand Hollis später.
»Könnte sein, dass ich es war, der sie erwischt hat.«
Inzwischen war auch Alicia zur Stelle. Sie stand
oben auf der Mauer und schrie, sie sollten das Feuer einstellen, das sei ein
Mensch, ein Mensch, verdammt, und
schafft die Seile her, schafft sofort die Seile
her! Einen Augenblick lang herrschte Chaos: Soo war
nirgends zu sehen, und der Befehl, sich abzuseilen, konnte nur von ihr kommen.
Alicia zögerte keinen Moment. Bevor jemand ein Wort sagen konnte, war sie auf
die Brüstung gesprungen, packte das Seil mit beiden Händen und sprang.
Es war, erklärte Hollis, das Verrückteste, das
er jemals gesehen hatte.
Sie sauste rasend schnell in die Tiefe und
schwang an der Mauer entlang. Ihre Beine wirbelten umher, als renne sie durch
die Luft, während drei Händepaare fieberhaft versuchten, die Bremse zu ziehen,
bevor sie unten aufschlug. Metall bog sich kreischend, als der Mechanismus einrastete.
Alicia überschlug sich bei der Landung im Staub, kam gleich wieder auf die
Beine und rannte los. Die Virais waren zwanzig Meter entfernt, noch immer über
die Leiche des Colonels gebeugt. Als sie Alicias Aufprall hörten, zuckten sie,
verdrehten zähnefletschend die Hälse, schnupperten. Frisches Blut.
Das Mädchen war jetzt am Fuße der Mauer, eine
dunkle Gestalt, die dort kauerte. Ein glitzernder Klumpen saß auf ihrem Rücken
- ihr Rucksack, den der Armbrustbolzen an den Körper der Kleinen geheftet hatte,
nass glänzend von ihrem Blut. Alicia packte sie wie einen Mehlsack und
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