Cronin, Justin
Stimmen - der
Vorraum füllte sich mit Neugierigen.
»Soo, schaff diese Leute hinaus.« Sara hob den
Kopf zum Vorhang. »Alles raus da! Die Leute sollen verschwinden!«
Soo nickte und lief hinaus. Sara tastete noch
einmal nach dem Puls des Mädchens. Ihre Haut war jetzt fleckig angelaufen wie
ein Winterhimmel kurz vor dem Schnee. Wie alt mochte sie sein? Vierzehn? Was
suchte ein vierzehnjähriges Mädchen da draußen im Dunkeln?
Sara sah Alicia an. »Du hast sie hereingeholt?«
Alicia nickte.
»Hat sie etwas gesagt? War sie allein?«
»Mein Gott, Sara.« Alicias Blick irrte umher.
»Ich weiß es nicht. Ja, ich glaube, sie war allein.«
»Ist das ihr Blut oder deins?«
Alicia schaute an ihrem T-Shirt hinunter.
Anscheinend bemerkte sie das Blut erst jetzt. »Ihres, glaube ich.«
Von draußen kam Gepolter, dann Calebs Stimme.
»Ich bin's!« Er kam herein und schwenkte eine schwere Drahtschere.
Ein schmieriges altes Ding, aber es würde
genügen. Sara goss Alkohol über die Schere und über ihre Hände und wischte sie
dann mit einem Lappen ab. Das Mädchen lag immer noch auf der Seite. Sie schnitt
die Bolzenspitze ab und schüttete noch einmal Alkohol über alles. Dann befahl
sie Caleb, sich die Hände zu waschen, wie sie es getan hatte. Inzwischen nahm
sie einen Strang Wolle von einem Bord, schnitt ein langes Stück davon ab und
rollte es zu einer Kompresse zusammen.
»Hightop, wenn ich den Bolzen herausziehe,
presst du das hier auf die Eintrittswunde. Sei nicht zimperlich, drück fest zu.
Ich werde die andere Seite vernähen. Vielleicht lässt die Blutung so nach.«
Er nickte unsicher. Sara wusste, dass er
überfordert war, aber in Wahrheit waren sie es alle. Ob das Mädchen die
nächsten paar Stunden überlebte oder nicht, hing vom Ausmaß der Blutung und
vom Umfang der inneren Verletzungen ab. Sie drehten sie wieder auf den Rücken.
Caleb und Alicia hielten sie bei den Schultern fest, und Sara packte den Bolzen
und fing an zu ziehen. Durch den Metallschaft spürte sie den faserigen,
knorpeligen Widerstand von zerfetztem Gewebe, das Knirschen gesplitterter
Knochen. So etwas konnte man nicht behutsam tun. Es musste schnell gehen. Mit
einem heftigen Ruck fuhr der Bolzen heraus, gefolgt von einem seufzenden
Schwall Blut.
»Mein Gott, das ist sie!«
Sara drehte sich um und sah Peter. Was meinte er
damit, das ist sie? Kannte
er sie? Wusste er, wer sie war? Aber das war natürlich unmöglich.
»Dreht sie auf die Seite. Los, Peter, pack mit
an.«
Sara griff zu Nadel und Garnrolle, trat hinter
das Mädchen und fing an, die Wunde zu nähen. Inzwischen war überall Blut. Es
sammelte sich auf der Matratze und tropfte auf den Boden.
»Sara, was soll ich machen?« Calebs Kompresse
war schon durchnässt.
»Einfach weiterdrücken.« Sie schob die Nadel
durch die Haut des Mädchens und zog den Faden straff. »Ich brauche hier mehr
Licht!«
Drei Stiche, vier, fünf, und jeder zog die
Wundränder fester zusammen. Aber sie wusste, dass es nichts nutzte. Der Bolzen
musste die Schlüsselbeinarterie verletzt haben. Daher kam das viele Blut. In
ein paar Minuten würde das Mädchen tot sein. Vierzehn Jahre alt, dachte sie.
Woher bist du gekommen?
»Ich glaube, es hört auf«, sagte Caleb.
Sara verknotete den letzten Faden. »Das kann
nicht sein. Du musst einfach weiterdrücken.«
»Nein, wirklich. Sieh doch.«
Sie rollten das Mädchen wieder auf den Rücken,
und Sara nahm die nasse Kompresse weg. Caleb hatte recht: Die Blutung hatte
nachgelassen. Die Eintrittswunde sah sogar kleiner aus, rosig und runzlig an
den Rändern. Das Gesicht des Mädchens war sanft und gefasst, als schlafe sie.
Sara legte ihr zwei Finger an den Hals. Ein fester, regelmäßiger Puls schlug an
Saras Fingerspitzen. Was um alles in der Welt...?
»Peter, leuchte mit der Laterne herüber.«
Peter hob die Laterne über das Gesicht des
Mädchens, und Sara zog vorsichtig das linke Augenlid hoch. Ein dunkler, feucht
schimmernder Augapfel, die Pupille eng zusammengezogen, eine gebänderte Iris
von der Farbe von durchnässter Erde. Aber etwas war anders. Da war noch etwas.
»Noch näher.«
Als Peter die Laterne herüberschwenkte und das
helle Licht auf das Auge fiel, fühlte sie es. Es war, als stürze sie in die
Tiefe, als habe die Erde unter ihren Füßen sich geöffnet - schlimmer als
Sterben, schlimmer als der Tod. Überall war schreckliche schwarze Dunkelheit,
und sie fiel hinein, fiel in alle Ewigkeit.
»Sara, was ist los?«
Sie wich taumelnd
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