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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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zurück, womöglich
zerquetschte Insekten.
    »Wie ist es passiert?«
    Peter seufzte. »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Zeit für Geschichten ist alles, was ich noch
habe, Peter. Solange du Lust hast, sie zu erzählen, habe ich Ohren, um sie zu
hören. Na los, der Tee ist fertig. Lass ihn nicht kalt werden.«
    Peter nippte an dem kochend heißen Gebräu. Es
schmeckte ein bisschen nach Erde, und der Nachgeschmack war so bitter, dass
man es kaum trinken konnte. Respektvoll brachte er einen Schluck herunter. Auf
dem Tisch neben ihm lag ihr Buch, in dem sie immer schrieb. Ihr Erinnerungsbuch
nannte sie es: ein dicker, handgebundener Klotz mit einem Einband aus
Lammleder, dessen Seiten mit der winzigen Druckschrift bedeckt waren, in der
sie schrieb - mit einer Krähenfeder und selbstgemachter Tinte. Auch das Papier
machte sie selbst; sie kochte Sägemehl zu einer Pulpe und strich dann die Bögen
auf viereckige alte Fensterscheiben. Peter wusste, dass sie mit Schreiben
beschäftigt war, wenn er diese Bögen an einer Wäscheleine hinter dem Haus
trocknen sah.
    »Wie kommst du mit deiner Geschichte voran,
Auntie?«
    »Sie nimmt kein Ende.« Sie schenkte ihm ein
runzliges Lächeln. »Es gibt so viel aufzuschreiben. Was alles passiert ist. Die
Welt von früher. Der Zug, der uns im Feuer hierherbrachte. Terrence und Mazie
und all die andern. Das alles - ich schreibe es auf, wie es mir wieder
einfällt. Eines Tages wird jemand wissen wollen, was passiert ist.«
    »Glaubst du?«
    »Peter, ich weiß es.« Sie trank einen Schluck, schmatzte mit den farblosen
Lippen und runzelte die Stirn über den Geschmack. »Ich glaube, ich habe zu
wenig Löwenzahn hineingetan.« Sie blinzelte Peter durch ihre Brillengläser an.
»Aber danach hast du nicht gefragt, was? Was schreibe ich hier bloß alles rein
- das war's, nicht wahr?«
    So arbeitete ihr Verstand: Er sprang vor und
zurück, bildete seltsame Zusammenhänge und tauchte in die Vergangenheit ein.
Sie sprach oft von Terrence, der mit ihr im Zug gefahren war. Manchmal schien
er ihr Bruder zu sein, manchmal ihr Cousin. Und es gab noch andere. Mazie Chou.
Einen Jungen namens Vincent Gum, ein Mädchen namens Sharise. Lucy und Rex
Fisher. Doch diese Wanderungen durch die Zeit wurden immer wieder durch
Augenblicke von verblüffender Klarheit unterbrochen.
    »Hast du über Theo geschrieben?«
    »Theo?«
    »Meinen Bruder.«
    Aunties Blick ging ins Weite. »Er hat mir
gesagt, er reitet zum Kraftwerk. Wann kommt er zurück?«
    Sie wusste es also nicht. Oder sie hatte es
einfach vergessen, und die Nachricht von Theos Verschwinden hatte sich in ihrem
Kopf mit anderen, ähnlichen Geschichten vermischt.
    »Ich glaube nicht, dass er zurückkommt«, sagte
Peter. »Das wollte ich dir sagen; deshalb bin ich hier. Es tut mir leid.«
    »Das braucht dir nicht leidzutun«, sagte sie.
»Mit dem, was du alles nicht weißt, könnte man ein Buch füllen. Das ist ein
Witz, nicht? Ein Buch. Na los. Trink deinen Tee.«
    Peter beschloss, sie nicht weiter zu bedrängen.
Was half es der alten Frau, wenn sie hörte, dass wieder jemand gestorben war.
Er nippte an der bitteren Flüssigkeit, aber der Geschmack war allenfalls noch
schlimmer geworden. Leise Übelkeit blubberte in seinem Magen.
    »Das ist die Birkenrinde, was du da fühlst. Gut
für die Verdauung.«
    »Schmeckt wirklich gut.«
    »Nein, tut es nicht. Aber es wirkt. Macht dich
innerlich sauber wie ein weißer Wirbelwind.«
    Peter fiel ein, dass es noch etwas gab. »Das
wollte ich dir auch noch erzählen: Ich habe die Sterne gesehen.«
    Die alte Frau strahlte. »Na, bitte sehr.« Sie
berührte seinen Handrücken mit einer runzligen Fingerspitze. »Das ist mal was
Gutes. Erzähl mir, wie haben sie für dich ausgesehen?«
    Seine Gedanken kehrten zurück zu diesem
Augenblick auf dem Dach, als er neben Lish auf dem Beton gelegen hatte. Die
Sterne, so dicht über ihren Gesichtern, dass er sie fast hätte berühren können.
Es war wie ein Erlebnis, das viele Jahre zurücklag, die letzten Minuten eines
Lebens, das er hinter sich gelassen hatte.
    »Das ist schwer in Worte zu fassen, Auntie. Ich
wusste nichts davon.«
    »Das ist ein Ding, was?« Ihr Blick richtete sich
auf die Wand hinter seinem Kopf, und in ihren Augen funkelte die Erinnerung an
das Sternenlicht. »Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich ein kleines
Mädchen war. Dein Vater kam immer herein wie du jetzt und erzählte mir von
ihnen. Ich habe sie gesehen, Auntie, sagte er dann, und ich fragte, wie

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