Cronin, Justin
je
nachdem, was sie gerade zu tun hatte, und sie ging immer barfuß, nur im Winter
nicht. Nach allem, was man wusste, war Auntie fast hundert Jahre alt. Sie war
verheiratet gewesen, erzählte man sich, nicht ein-, sondern zweimal. Weil sie
allerdings nie eigene Kinder hatte bekommen können, erschien ihr langes Leben
wie ein Wunder ohne Sinn und Zweck: ein Pferd, das zählen konnte, indem es mit
dem Huf aufstampfte. Niemand wusste genau, wie sie die Dunkle Nacht überlebt
hatte. Ihr Haus hatte das Erdbeben fast unbeschädigt überstanden, und am
Morgen hatte man sie in ihrer Küche gefunden, wo sie gesessen und einen Becher
von ihrem berühmt grauenhaften Tee getrunken hatte, als sei überhaupt nichts
geschehen. »Vielleicht wollten sie mein altes Blut einfach nicht.« Mehr hatte
sie nicht gesagt.
Die Nacht war kühl geworden. In den Fenstern von
Aunties Cottage leuchtete mattes Licht. Sie behauptete, sie schlafe nie. Tag
und Nacht seien eins für sie. Tatsächlich konnte Peter sich nicht erinnern,
dass sie einmal nicht auf den Beinen und bei der Arbeit gewesen war. Er klopfte
an die Tür, und als keine Antwort kam, öffnete er sie einen Spaltbreit.
»Auntie? Ich bin's, Peter.«
Drinnen raschelte Papier, und dann wurde ein
Stuhl über den alten Holzfußboden geschoben. »Peter, komm herein, komm herein.«
Er trat ein. Das Licht kam von einer Laterne in
der Küche, einem angeflickten Schuppen an der Rückseite des Hauses. Das Haus
war vollgestopft, aber aufgeräumt, und die Anordnung von Möbeln und anderen
Gegenständen - turmhohe Bücherstapel, Gläser mit Steinen und alten Münzen und
anderer Schnickschnack, den er nicht identifizieren konnte - wirkte nicht nur
durchdacht, sondern ließ eine natürliche Systematik erkennen, die daher kam,
dass sie ihren jetzigen Platz schon seit Jahrzehnten innehatten, wie Bäume in
einem Wald.
Auntie erschien in der Küchentür und winkte ihn
herein.
»Du kommst gerade rechtzeitig. Ich habe Tee
gemacht.«
Sie hatte immer »gerade Tee gemacht«. Aunties
Tee war, behauptete sie, der Grund für ihr langes Leben. Sie braute ihn aus
einem Sammelsurium von Kräutern, die sie teils züchtete und teils einfach am
Wegrand pflückte. Er war der Preis, den man für ihre Gesellschaft bezahlen
musste.
»Danke«, sagte Peter. »Ich trinke gern eine
Tasse.«
Sie nestelte an ihren Brillen herum und suchte
in dem Durcheinander an ihrem Hals nach der richtigen. Endlich schob sie sie
in ihr ausgemergeltes, nussbraunes Gesicht. Im Verhältnis zum Rest ihres
Körpers erschien ihr Kopf ein wenig geschrumpft, als schreite der körperliche
Zerfall von oben nach unten voran. Sie sah ihn prüfend an und lächelte ihr
zahnloses Lächeln, als sei sie erst jetzt davon überzeugt, dass er tatsächlich
der war, für den sie ihn hielt. Sie trug wie immer ein weites Kittelkleid,
bunt zusammengeflickt aus den Überresten zahlloser anderer Kleider der letzten
Jahre. Was von ihrem Haar noch übrig war, bildete ein spinnwebzartes Gewirr aus
weißen Fäden, das nicht aus dem Kopf zu wachsen, sondern ihn eher zu umschweben
schien, und ihre Wangen waren übersät von Flecken, die weder Sommersprossen
noch Leberflecken waren, sondern irgendetwas dazwischen. »Dann in die Küche
mit dir.«
Er folgte ihren schlurfenden, barfüßigen
Schritten durch einen schmalen Korridor in den hinteren Teil des Hauses. Der
Eichenholztisch füllte die kleine Küche mehr oder weniger aus. Die Luft war
hier drin stickig von dem Dampf, der aus dem verbeulten Aluminium-Teekessel
aufstieg. Peter spürte, wie seine Poren sich öffneten und er anfing zu
schwitzen. Während Auntie sich mit dem Tee beschäftigte, schob er das einzige
Fenster der Küche hoch. Ein leises Lüftchen wehte unter dem Rahmen herein. Er
setzte sich auf einen Stuhl. Auntie trug die Teekanne zum Tisch und stellte
sie auf einen eisernen Untersatz. Dann ging sie zur Pumpe am Spülbecken, wusch
zwei Becher aus und stellte sie ebenfalls auf den Tisch.
»Und wie kommt's, dass du mich besuchst, Peter?«
»Ich fürchte, ich muss dir was sagen. Es geht um
Theo.«
Aber die alte Frau winkte ab. »Oh«, sagte sie,
»das weiß ich schon.«
Auntie setzte sich ihm gegenüber, zog ihr Kleid
über den knochendürren Schultern zurecht und streckte die Beine aus. Sie goss
den Tee durch ein Sieb in die Becher und sog die Wangen ein. Der Tee hatte die
dünne gelbe Farbe von Urin, und im Sieb blieben kleine, beunruhigend nach
kleinen Tierchen aussehende grüne und braune Krümel
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