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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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zurück. Ihr Herz bäumte sich
auf, und ihre Hände zitterten wie Blätter im Wind. Alle starrten sie an. Sie
wollte sprechen, aber kein Wort kam über ihre Lippen. Was hatte sie gesehen?
Doch sie hatte nichts gesehen, sie hatte etwas gefühlt. Und Sara fiel das Wort ein: allein. Allein! Das war es, was
sie war - was sie alle waren. Und ihre Eltern waren es, deren Seelen in
Ewigkeit durch die schwarze Dunkelheit irrten. Sie waren allein!
    Ihr wurde bewusst, dass jetzt noch andere im
Raum waren. Sanjay, und neben ihm Soo Ramirez. Zwei weitere Wächter hielten
sich im Hintergrund. Alle warteten darauf, dass sie etwas sagte; sie spürte
die Glut ihrer Blicke.
    Sanjay trat heran. »Wird sie überleben?«
    Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
»Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme kam kraftlos aus ihrer Kehle. »Es ist eine
schlimme Wunde, Sanjay. Sie hat viel Blut verloren.«
    Sanjay betrachtete das Mädchen einen Moment
lang. Anscheinend überlegte er, was er von ihr halten, wie er ihre unfassbare
Anwesenheit erklären sollte. Schließlich wandte er sich ab und sah Caleb an,
der mit der bluttriefenden Kompresse neben dem Bett stand. Etwas Aggressives
schien mit einem Mal in der Luft zu liegen. Die beiden Männer im Hintergrund
traten vor und legten die Hände an die Messer.
    »Komm mit, Caleb.«
    Die beiden Wächter - Jimmy Molyneau und Ben Chou
- packten den Jungen bei den Armen. Er war zu überrascht, um sich zu sträuben.
    »Sanjay, was hast du vor?«, fragte Alicia. »Soo,
was zum Teufel soll das?«
    Sanjay beantwortete ihre Fragen. »Caleb ist
verhaftet.«
    »Verhaftet?«, quiekte der Junge. »Wieso bin ich
verhaftet?«
    »Caleb hat das Tor geöffnet. Er kennt das Gesetz
so gut wie jeder andere. Jimmy, schafft ihn raus.«
    Jimmy und Ben zogen den zappelnden Jungen zum
Vorhang. »Lish!«, schrie Caleb.
    Sie trat ihnen in den Weg. »Soo, sag's ihnen.
Ich war es. Ich bin über die Mauer gegangen. Wenn ihr jemanden verhaften wollt,
dann mich.« Soo stand neben Sanjay. Sie schwieg. »Soo? Sag's ihm.«
    Aber die Frau schüttelte den Kopf. »Das kann ich
nicht, Lish.«
    »Was soll das heißen, du kannst es nicht?«
    »Sie hat es nicht zu entscheiden«, sagte Sanjay.
»Die Lehrerin ist tot. Caleb wird wegen Mordes festgenommen.«
     
    27
     
    Am Vormittag kannte jeder in der Kolonie die
Geschichte der vergangenen Nacht in dieser oder jener Fassung. Ein Walker war
vor der Mauer erschienen, und Caleb hatte das Tor geöffnet und einen Viral
hereingelassen. Der Walker, ein kleines Mädchen, lag im Krankenrevier im Sterben;
ein Wächter hatte sie mit der Armbrust schwer verwundet. Der Colonel war tot.
Wie es aussah, hatte er Selbstmord begangen, doch kein Mensch wusste, wie er
über die Mauer gekommen war. Und Arlo war auch tot. Sein Bruder hatte ihn in
der Zuflucht erschossen.
    Aber das Schlimmste war das mit der Lehrerin.
    Sie fanden sie im Schlafsaal unter dem Fenster.
Wahrscheinlich hatte sie gehört, wie der Viral über das Dach kam, und
versucht, ihm den Weg zu versperren. Das Messer war noch in ihrer Hand.
    Natürlich hatte es über die Jahre eine ganze
Reihe von Lehrerinnen gegeben. Aber im eigentlichen Sinn gab es immer nur eine,
und die, die in dieser Nacht gestorben war, war eine Darrell - April Darrell.
Sie war die Frau, an die Peter sich erinnerte und die über seine Fragen nach
dem Meer gelacht hatte. Aber damals war sie jünger gewesen, nicht viel älter
als er jetzt, und auf eine sanfte, blasse Art hübsch wie eine ältere Schwester,
die wegen irgendeines körperlichen Leidens im Haus bleiben musste. Sie war die
Frau, an die Sara sich erinnerte, wenn sie an den Morgen ihrer Entlassung
dachte, an die vielen Fragen, die Sara ihr gestellt hatte. Es war, als führte
die Lehrerin sie über eine Treppe in einen dunklen Keller, in dem die
schreckliche Wahrheit verborgen lag, um sie dann in die Arme ihrer Mutter zu
geben, wo Sara weinen konnte über die Welt und das, was einen da draußen
erwartete. Es war ein schwerer Beruf, das wussten alle, ein undankbares Leben,
eingeschlossen mit den Kleinen und so gut wie ohne erwachsene Gesellschaft mit
Ausnahme schwangerer oder stillender Frauen, die nichts außer ihren Babys im
Kopf hatten. Und es stimmte auch, dass der kollektive Groll sich gegen die
Lehrerin richtete, weil sie es war, von der man die schmerzliche Wahrheit
erfuhr - von der es bislang jeder erfahren hatte. Mit Ausnahme der Ersten Nacht,
wenn sie manchmal für kurze Zeit auf dem Sonnenfleck erschien, setzte

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