Cronin, Justin
die
Lehrerin das ganze Jahr über fast nie einen Fuß vor die Tür der Zuflucht, und
wenn sie es tat, war es, als bewege sie sich in einer unsichtbaren Aura des
Verrats. Peter hatte Mitleid mit ihr, aber es war zugleich nicht zu leugnen,
dass er es kaum über sich brachte, ihr in die Augen zu sehen.
Der Haushalt war gleich im Morgengrauen
zusammengetreten und hatte den Notstand ausgerufen. Läufer gingen von Haus zu
Haus und gaben es bekannt. Bis man Genaueres wusste, wurden sämtliche Tätigkeiten
außerhalb der Mauer eingestellt, und die Herde sowie sämtliche Arbeitskolonnen
blieben in der Kolonie. Das Tor würde nicht geöffnet werden. Caleb war im
Gefängnis. Man hatte sich darauf geeinigt, vorläufig kein Urteil zu fällen, da
so viele Seelen verloren waren und in der Kolonie Angst und Verwirrung
herrschten.
Und dann war da die Sache mit dem Mädchen.
In den frühen Morgenstunden hatte Sanjay die
Mitglieder des Haushalts ins Krankenrevier geführt, um sie ihnen zu zeigen.
Die Verletzung an ihrer Schulter war offensichtlich schwerwiegend, und sie war
noch nicht wieder zu sich gekommen. Es gab keinerlei Anzeichen für eine Virusinfektion,
aber ihr Auftauchen war absolut unerklärlich. Warum hatten die Virais sie
nicht angegriffen? Wie hatte sie überlebt, ganz allein in der Dunkelheit?
Sanjay befahl, dass jeder, der Kontakt mit ihr gehabt hatte, entkleidet und
gewaschen wurde, und seine Kleidung wurde verbrannt. Auch der Rucksack des
Mädchens und ihre Kleidung wanderten ins Feuer, und das Mädchen wurde unter
strenge Quarantäne gestellt. Niemand außer Sara durfte das Krankenrevier
betreten, bis man mehr wusste.
Das Hearing wurde in einem alten Klassenzimmer
in der Zuflucht abgehalten - in dem Zimmer, erkannte Peter, in das die
Lehrerin ihn am Tag seiner Entlassung geführt hatte. Hearing: Das war der
Ausdruck, den Sanjay benutzt hatte, ein Wort, das Peter noch nie gehört hatte.
Es klang wie eine elegante Bezeichnung für die Suche nach einem Sündenbock.
Sanjay hatte ihnen - Peter, Alicia, Hollis und Soo - verboten, vor ihrer
Einzelvernehmung miteinander zu sprechen. Sie warteten draußen auf dem Flur, in
die winzigen Pulte geklemmt, die in einer Reihe an der Wand standen, und mit
ihnen zusammen wartete ein einzelner Wächter, Sanjays Neffe Ian. Um sie herum
war es ungewöhnlich still. Die Kleinen waren alle nach oben gebracht worden,
damit der Große Saal geschrubbt werden konnte. Niemand wusste, wie die Kinder
die Ereignisse der Nacht verarbeiten würden und was Sandy Chou, die vorläufig
die Betreuung übernahm, ihnen erzählen würde. Wahrscheinlich, dass sie das
alles nur geträumt hätten. Bei den Jüngsten würde dieser Trick sicher
funktionieren. Aber ob ihr das die Älteren abnahmen - wer weiß? Vielleicht
würde man die älteren Kinder auch vorzeitig aus der Zuflucht entlassen müssen.
Soo war als Erste hereingerufen worden. Kurze
Zeit später kam sie wieder heraus und eilte mit gehetztem Blick den Flur
hinunter. Hollis war der Nächste. Als er seine langen Beine unter dem Pult
herausfaltete, sah er aus, als sei alle Energie aus ihm entwichen. Ian hielt
ihm die Tür auf und behielt die andern warnend im Auge. Auf der Türschwelle
blieb Hollis stehen, drehte sich zu ihnen um und brach das Schweigen, das jetzt
eine Stunde gedauert hatte.
»Ich will nur wissen, dass es nicht umsonst
war.«
Sie warteten. Peter hörte murmelnde Stimmen
hinter der Tür des Klassenzimmers. Gern hätte er Ian gefragt, ob er etwas
wisse, aber dessen Gesichtsausdruck gab ihm zu verstehen, dass er es gar nicht
erst zu versuchen brauchte. Ian war so alt wie Theo, und er und seine Frau Hannah
hatten eine kleine Tochter namens Kira in der Zuflucht. Das erklärte seinen
Gesichtsausdruck, dachte Peter: Es war der Blick eines Vaters.
Als Hollis herauskam, sah er Peter kurz an und
nickte knapp, bevor er den Flur hinunterging. Peter wollte aufstehen, aber Ian
sagte: »Nicht du, Jaxon. Lish ist die Nächste.«
Jaxon? Seit wann nannte irgendjemand ihn Jaxon?
Erst recht jemand von der Wache? Und wieso klang es aus Ians Mund plötzlich
anders?
»Schon gut.« Lish stand müde auf. Noch nie hatte
er sie so mutlos gesehen. »Ich will es nur hinter mich bringen.«
Sie verschwand, und Peter und Ian waren allein.
Ian starrte befangen an die Wand über Peters Kopf.
»Es war wirklich nicht ihre Schuld, Ian. Niemand
ist schuld.«
Ian nahm eine steife Haltung ein und antwortete
nicht.
»Wenn du da gewesen wärst, hättest
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