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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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falschen Alarme, und irgendwann war
ihre Blutung versiegt. Mausami war nach einer Schwangerschaft zur Welt
gekommen, in deren Verlauf sich noch einmal eine Katastrophe anzubahnen
schien. Gloria hatte ständig geblutet, und die qualvolle, zwei Tage dauernde
Entbindung war Sanjay, der im Vorzimmer des Krankenreviers ihrem verzweifelten
Stöhnen hatte lauschen müssen, wie eine Tortur erschienen, die kein Mensch
überstehen konnte.
    Doch Gloria hatte es geschafft. Ausgerechnet
Prudence Jaxon war es gewesen, die ihm seine Tochter herausbrachte. Er hatte
dagesessen, den Kopf in den Händen vergraben, völlig leer nach dem
stundenlangen Warten und den furchtbaren Lauten aus dem Entbindungszimmer. Er
hatte sich inzwischen schon damit abgefunden, dass das Kind sterben würde und
Gloria mit ihm, und dass er allein zurückbleiben würde. So nahm er das in
Windeln gewickelte Bündel völlig verständnislos in Empfang, und im ersten
Moment glaubte er, Prudence reiche ihm sein totes Kind. Es
ist ein Mädchen, hatte Prudence gesagt, ein
gesundes Mädchen. Selbst da hatte es noch einen Augenblick
gedauert, bis der Gedanke zu ihm durchgedrungen war, bis er diese Worte mit dem
seltsamen neuen Etwas in seinen Armen verband. Du
hast eine Tochter, Sanjay. Und als er das
Wickeltuch zur Seite schob und ihr Gesicht sah, so verblüffend in seiner
Menschlichkeit, den winzigen Mund, das schwarze Flaumhaar und die sanften,
vorquellenden Augen, da wusste er, dass das, was er jetzt empfand, zum ersten
und einzigen Mal in seinem Leben Liebe war.
    Und dann hätte er sie beinahe verloren. Eine
bittere Ironie des Schicksals, dass sie sich mit Theo Jaxon einlassen musste,
mit dem Sohn, der seinem Vater so ähnlich war. Mausami hatte es vor ihm und
auch vor Gloria zu verheimlichen versucht. Aber Sanjay sah, was da im Gange
war. Er hatte schon damit gerechnet, dass sie Theo heiraten wollte, und es
deshalb wie eine Rettung empfunden, als Gloria ihm die Neuigkeit erzählte:
Galen Strauss, nach all dem! Nicht dass Galen der Mann gewesen wäre, den er
für seine Tochter ausgesucht hätte. Durchaus nicht. Er hätte einen robusteren
Mann vorgezogen, einen wie Hollis Wilson oder Ben Chou. Aber Galen war nicht
Theo Jaxon, und darauf kam es an. Er hatte nichts mit den Jaxons gemein, und es
war für jeden offensichtlich, dass er Mausami liebte. Wenn diese Liebe im Kern
ein Element von Schwäche, ja, von Verzweiflung enthielt, konnte Sanjay das in
Kauf nehmen.
     
    Das alles ging ihm durch den Kopf, als er jetzt
am Halbtag auf der Krankenstation stand und das Mädchen betrachtete. Dieses
Mädchen von Nirgendwo. Es war, als seien die einzelnen Stränge seines Lebens,
Mausami und Babcock und Gloria und die Gewehre und alles andere, in dieser
unfassbaren Person zusammengeflochten, in dem Geheimnis, das sie verkörperte.
    Sie schien zu schlafen. Jedenfalls sah es aus, als schlafe sie. Sanjay hatte Sara mit Jimmy in den Vorraum
verbannt, und Ben und Galen bewachten draußen die Tür. Warum er das veranlasst
hatte, hätte er nicht genau sagen können, aber etwas in ihm wollte, dass er
dieses Mädchen allein in Augenschein nahm. Sie war offensichtlich schwer
verletzt, und nach allem, was Sara gesagt hatte, nahm Sanjay nicht an, dass sie
überleben würde. Aber als sie jetzt mit geschlossenen Augen und ganz still vor
ihm lag, langsam und ruhig atmend und ohne dass ihr Gesicht eine Spur von Kampf
oder Not erkennen ließ, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie
widerstandsfähiger war, als sie aussah. Eine solche Verwundung durch den
Armbrustbolzen eines Wächters hätte einen erwachsenen Mann umgebracht, ganz zu
schweigen von einem Mädchen in ihrem Alter ... sechzehn? Dreizehn? Jünger oder
älter? Sara hatte sie gewaschen, so gut sie konnte, und ihr etwas angezogen,
ein Baumwollhemd, das vorn zu öffnen war. Der nicht eben feine Stoff war nach
jahrelangem Waschen zu einem winterlichen Grau verschlissen. Nur der rechte
Ärmel war ausgefüllt; der linke hing verstörend leer herunter, als enthalte er
ein unsichtbares Glied. Das Hemd war offen, und er sah den dicken Wollverband
um ihre Brust und die linke Schulter, der bis zum Ansatz ihres hellweißen
Halses reichte. Sie hatte nicht den Körper einer Frau, das konnte er deutlich
sehen. Hüften und Brust waren schmal wie bei einem Jungen, und ihre Beine, die
unter dem Saum des Hemdes hervorragten, waren fohlenhaft schlank, die Knie
knochig wie bei einem Kind. Es war erstaunlich, dass an solchen Knien nicht
die

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