Cronin, Justin
die Hand. »Steck es so
ein, dass man es nicht sieht.«
»Lish«, sagte Peter leise. »Glaubst du, das ist
eine gute Idee?«
»Ich lasse ihn nicht unbewaffnet hier.« Sie
schaute Caleb an. »Du hältst dich bereit. Wenn irgendetwas passiert und du eine
Chance hast, zu verschwinden, dann darfst du nicht zögern. Renn wie der Teufel
zu dem kleinen Tunnel bei der Mauer. Da draußen gibt es Deckung. Ich werde dich
finden.«
»Warum da?«
Sie hörten Stimmen von draußen. »Es dauert zu
lange, das zu erklären. Haben wir uns verstanden?«
Dale kam herein. Eine Wächterin war bei ihm,
Sunny Greenberg. Sie war sechzehn, eine Läuferin, die erst vor Kurzem den
Dienst angetreten hatte.
»Lish, ich mach keine Witze«, sagte Dale. »Ihr
müsst raus hier.«
»Ganz ruhig, Dale. Wir gehen ja.« Aber als
Alicia aufstand und Sunny in der Tür stehen sah, wurde sie wütend. »Besser
ging's nicht? Eine Läuferin?«
»Alle andern sind auf der Mauer.«
Noch vor zwölf Stunden, begriff Peter, hätte
Alicia jeden bekommen, den sie wollte. Ein ganzes Sonderkommando. Jetzt musste
sie um Brosamen betteln.
»Was ist mit Soo?«, drängte Alicia. »Hast du sie
gesehen?«
»Ich weiß nicht, wo sie ist. Wahrscheinlich ist
sie auch da oben.« Dale warf Peter einen flehenden Blick zu. »Kannst du sie
nicht einfach wegbringen?«
Sunny hatte bisher nichts gesagt, aber jetzt kam
sie weiter herein. »Dale, was ist hier los? Ich dachte, du hättest gesagt,
Jimmy hätte angeordnet, dass ein zweiter Wächter herkommt. Wieso nimmst du
jetzt Befehle von ihr entgegen?«
»Lish ist nur kurz eingesprungen.«
»Dale, sie ist kein Captain. Sie gehört nicht
mal mehr zur Wache.« Jetzt hatte das Mädchen
nur noch ein kurzes, leicht verlegenes Achselzucken für Alicia übrig. »Nichts
für ungut, Lish.«
»Schon okay.« Alicia deutete mit dem Kopf auf
die Armbrust, die das Mädchen in der Hand hielt. »Sag mal, kannst du mit diesem
Ding eigentlich umgehen?«
In falscher Bescheidenheit zuckte sie die
Achseln. »Hatte die meisten Treffer in meiner Klasse.«
»Hoffentlich stimmt das. Denn anscheinend bist
du gerade befördert worden.« Alicia wandte sich an Caleb. »Hältst du es aus
hier drin?«
Der Junge nickte.
»Vergiss nur nicht, was ich dir gesagt habe. Ich
werde nicht weit weg sein.«
Alicia sah Dale und Sunny noch einmal an, und
ihr Blick sagte alles: Versteht mich nur
richtig. Das hier ist etwas Persönliches. Dann
ging sie mit Peter hinaus.
29
Für Sanjay Patal, Oberhaupt des Haushalts, hatte
alles schon vor Jahren angefangen. Es hatte mit den Träumen angefangen.
Nicht das Mädchen - von ihr hatte er nie
geträumt, da war er sicher. Oder fast sicher. Das Mädchen von Nirgendwo - so
nannten sie nun alle, sogar Old Chou; im Laufe eines einzigen Vormittags war
das zu ihrem offiziellen Namen geworden. Dieses Mädchen von Nirgendwo war zu
ihnen gekommen, ein junger, in seiner Blüte stehender Mensch; eine
Geistererscheinung, die sich als Wesen aus Fleisch und Blut entpuppte. Dass so
etwas schlicht unmöglich war, wurde durch ihre Existenz widerlegt. Er hatte
sich durchforscht, aber er konnte sie nirgends finden, nicht in dem Teil, den
er als sich selbst kannte, als Sanjay Patal, und auch nicht in dem anderen, in
dem geheimen, träumenden Teil.
Denn das Gefühl wohnte in ihm, solange Sanjay
zurückdenken konnte. Das Gefühl, das wie eine zweite Person war, eine Seele
für sich, die in der seinen wohnte. Eine Seele mit einem Namen und einer
Stimme, die in ihm sang: Sei der Meine. Ich bin
dein, und du bist mein, und zusammen sind wir größer als die Summe, die Summe
unserer Teile.
Seit er als Kind in der Zuflucht gewesen war,
war dieser Traum zu ihm gekommen. Ein Traum von einer längst verschwundenen
Welt und eine Stimme, die in ihm sang. In gewisser Hinsicht war es ein Traum
wie jeder andere, ein Traum aus Tönen und Licht und Empfindungen. Ein Traum von
der dicken Frau in ihrer Küche, aus deren Mund Rauch kam. Die Frau, wie sie
Essen in die weite, weiche Höhle ihres Mundes schob, wie sie in ihr Telefon
sprach, ein wunderliches Ding mit einer langen, schlangenhaften Schnur, wo man
hier hineinsprach und dort hörte. Irgendwie wusste er, was dieses Ding war,
dass es ein Telefon war, und so hatte Sanjay allmählich begriffen, dass es
nicht einfach ein Traum war, den er träumte. Es war eine Vision. Eine Vision
der Zeit Davor. Und die Stimme in ihm sang ihren geheimnisvollen Namen:
Ich bin Babcock.
Ich bin Babcock.
Wir sind
Weitere Kostenlose Bücher