Cronin, Justin
räusperte sich - wie lange hatte er
dagestanden und sie angeschaut? -, dann sprach er sie an.
»Wach auf.«
Keine Reaktion. Aber ihm war, als sehe er hinter
ihren geschlossenen Lidern etwas aufflackern. Er sprach noch einmal, lauter
jetzt. »Wenn du mich hören kannst, wach auf.«
Ein Geräusch hinter ihm unterbrach ihn. Sara kam
durch den Vorhang, gefolgt von Jimmy. »Bitte, Sanjay. Lass sie schlafen.«
»Diese Frau ist eine Gefangene, Sara. Es gibt
Dinge, die wir wissen müssen.«
»Sie ist keine Gefangene, sie ist eine Patientin.«
Er schaute wieder auf das Mädchen hinunter. »Sie
sieht nicht aus, als läge sie im Sterben.«
»Ich weiß nicht, ob sie stirbt oder nicht. Es
ist ein Wunder, dass sie noch lebt, bei dem Blutverlust. Gehst du jetzt bitte
hinaus? Ich weiß nicht, wie ich den Laden hier sauber halten soll, wenn ihr
alle hier durchmarschiert.«
Sanjay sah, wie abgekämpft die Frau war. Ihr
Haar war verschwitzt und zerzaust, ihre Augen glasig vor Erschöpfung. Es war
für alle eine lange Nacht gewesen, und der Tag hatte noch länger gedauert.
Trotzdem lag Autorität in ihrem Blick: Hier bestimmte sie die Regeln.
»Und du sagst mir Bescheid, wenn sie aufwacht?«
»Ja. Das weißt du doch.«
Sanjay wandte sich an Jimmy, der vor dem Vorhang
stand. »Okay, Jimmy. Wir gehen.«
Aber der Mann reagierte nicht. Er schaute -
nein, er starrte das Mädchen an.
»Jimmy?«
Jetzt erst riss er sich von ihr los. »Was hast
du gesagt?«
»Ich habe gesagt, wir gehen. Wir lassen Sara
arbeiten.«
Jimmy schüttelte verwundert den Kopf.
»Entschuldige. Ich glaube, ich war einen Moment lang abwesend.«
»Du solltest ein bisschen schlafen«, stellte
Sara fest. »Du auch, Sanjay.«
Sie gingen hinaus auf die Veranda, wo Ben und
Galen Wache standen. Die beiden schwitzten in der Hitze. Anfangs hatten sich
hier Neugierige versammelt, die unbedingt einen Blick auf den Walker werfen
wollten, aber Ben und Galen hatten sie wieder weggeschickt. Es war schon nach
Halbtag, und nur wenige Leute waren unterwegs. Gegenüber sah Sanjay einen
Arbeitstrupp, der mit Masken, schweren Stiefeln und Eimern unterwegs zur
Zuflucht war, um den Schlafsaal noch einmal sauber zu schrubben.
»Ich weiß nicht, was es ist«, sagte Jimmy. »Aber
irgendetwas an diesem Mädchen ... Hast du ihre Augen gesehen?«
Sanjay war verblüfft. »Ihre Augen waren
geschlossen, Jimmy.«
Jimmy starrte auf den Boden, als habe er etwas
verloren und könne es nicht wiederfinden. »Wenn ich's mir recht überlege ...
ja, kann sein, dass sie wirklich geschlossen waren«, sagte er. »Aber wie komme
ich dann darauf, dass sie mich angesehen hat?«
Sanjay schwieg. Die Frage ergab keinen Sinn.
Trotzdem war etwas an dem, was Jimmy da sagte. Als Sanjay das Mädchen
angeschaut hatte, hatte ihn das deutliche Gefühl beschlichen, beobachtet zu
werden. Er sah zu Galen und Ben hinüber. »Weiß einer von euch beiden, wovon der
Kerl da redet?«
Ben zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.
Vielleicht steht sie auf dich, Jimmy.«
Jimmy fuhr herum. In seinem schweißnassen
Gesicht lag tatsächlich Panik. »Hört auf mit den Witzen! Geht doch rein und
seht selbst, was ich meine. Es ist unheimlich, ich sag's euch.«
Ben warf einen kurzen Blick zu Galen hinüber,
aber der zuckte nur hilflos die Achseln. »Himmel noch mal«, sagte Ben, »es war
nur ein Scherz. Wieso regst du dich auf?«
»Es war nicht lustig, verdammt. Und was hast du
zu grinsen, Galen?«
»Ich? Ich habe doch gar nichts gesagt.«
Sanjay platzte der Kragen. »Das reicht, ihr
drei. Und Jimmy - niemand betritt dieses Gebäude. Verstanden?« Jimmy nickte
zerknirscht. »Ja. Alles klar.«
»Ich mein's ernst. Egal, wer es ist.«
Sanjay starrte Jimmy durchdringend an. Der Mann
war keine Soo Ramirez, das stand fest, und er war auch keine Alicia. Sanjay
fragte sich, ob er ihn möglicherweise gerade deshalb für diesen Job auserwählt
hatte.
»Was sollen wir mit Hightop anfangen?«, fragte
Jimmy. »Ich meine, wir schmeißen ihn doch nicht wirklich raus, oder?«
Der Junge, dachte Sanjay müde. Caleb Jones war
plötzlich der Letzte, über den er sich den Kopf zerbrechen wollte. Caleb hatte
den ersten Stunden der Krise die Klarheit verliehen, die sie erforderte: Die Leute
brauchten etwas oder jemanden als Zielscheibe für ihren Zorn. Aber bei Licht
betrachtet erschien es einfach nur grausam, den Jungen auszusetzen - eine
sinnlose Geste, die alle später bereuen würden. Und der Junge hatte wirklich
Mut. Als die Anklage
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