Cronin, Justin
eine oder andere Narbe zu sehen war, die Spuren eines kleinen Unglücks -
eines Sturzes von der Schaukel oder einer Spielplatzrauferei.
Und ihre Haut, dachte Sanjay, als sein Blick an
ihr heraufwanderte und sie noch einmal ganz betrachtete, ihre Knie, ihre Arme
und schließlich ihr Gesicht. Nicht weiß, nicht blass - diese beiden Worte
waren keine angemessene Beschreibung des Strahlens, das von ihr ausging. Als
habe die Helligkeit ihrer Haut nichts mit fehlenden Pigmenten zu tun, sondern
komme von woanders her. Ein inneres Strahlen. Er konnte eine leichte Bräune
entdecken, wo die Sonne sie berührt hatte, an Händen, Armen und Gesicht, und
einen Streifen von verblassten Sommersprossen, der sich quer über ihre Wangen
und die Nase zog. Sie waren es, die in ihm ein Gefühl von väterlicher
Zärtlichkeit weckten, ihn an früher erinnerten: Mausami hatte als Kind genau
solche Sommersprossen gehabt.
Die Kleidung und der Rucksack des Mädchens waren
verbrannt worden, aber vorher hatte der Haushalt mit dicken Handschuhen den
ärmlichen, blutgetränkten Inhalt untersucht. Sanjay wusste nicht, was er
erwartet hatte - jedenfalls nicht das, was er gefunden hatte. Der Rucksack
selbst war aus gewöhnlichem grünem Segeltuch. Vielleicht Militärgepäck, wer
weiß? Ein paar Gegenstände waren nach allgemeiner Ansicht wirklich nützlich -
ein Taschenmesser, ein Büchsenöffner, ein dickes Bindfadenknäuel -, aber das
meiste wirkte bunt zusammengewürfelt. Es war nicht zu erkennen, was das alles
bedeutete: ein überraschend runder, glatter Stein, ein sonnengebleichtes Stück
von einem Knochen, eine Halskette mit einem aufklappbaren, aber leeren
Medaillon, ein Buch mit dem mysteriösen Titel Charles
Dickens' Weihnachtsgeschichte, Illustrierte Ausgabe. Der
Bolzen war mitten hindurchgefahren und hatte das Buch aufgespießt; die Seiten
waren aufgequollen vom Blut des Mädchens. Old Chou hatte sich erinnert, dass
Weihnachten in der Zeit Davor ein Fest gewesen war, vergleichbar mit der Ersten
Nacht. Aber Genaues wusste niemand.
So konnte nur das Mädchen selbst seine
Geschichte erzählen. Dieses Mädchen von Nirgendwo in seiner Kapsel des
Schweigens. Was ihr Auftauchen bedeutete, lag auf der Hand: Da draußen lebte
noch jemand.
Wer und wo diese Leute auch sein mochten, sie
hatten eine der Ihren in die Wildnis hinausgetrieben, ein wehrloses Mädchen,
das irgendwie den Weg hierhergefunden hatte. Das hätte eigentlich eine gute Nachricht
sein müssen, fand Sanjay, als er darüber nachdachte, ein Grund zum Feiern. Und
doch hatte ihre Ankunft nichts als beklommenes Schweigen hervorgerufen. Nicht
ein einziges Mal hatte er jemanden sagen hören: Wir
sind nicht allein. Das bedeutet es. Es gibt doch andere da draußen.
Es war wegen der Lehrerin, dachte er. Nicht,
weil die Lehrerin tot war, obwohl das sicher auch eine Rolle spielte. Es lag an
dem, was sie sagte, wenn man aus der Zuflucht entlassen wurde. Wenn die Leute
daran zurückdachten und die Geschichte von ihrer Entlassung erzählten, taten
sie es meist mit einem Lachen ab. Unfassbar, was für ein
Theater ich gemacht habe, sagten sie dann alle. Ihr
hättet sehen sollen, wie ich geheult habe! Als
sprächen sie nicht von ihrem eigenen kindlichen Ich, von unschuldigen Wesen,
denen man Mitgefühl und Verständnis entgegenbringen sollte, sondern von jemand
ganz anderem, weit entfernt und ein bisschen lächerlich. Und es stimmte: Wenn
man erst einmal wusste, dass die Welt ein Ort war, wo der Tod wütete, dann kam
einem das Kind, das man gewesen war, fremd vor. Es hatte ihm in der Seele
wehgetan, als er Mausamis enttäuschtes Gesicht gesehen hatte, wie sie aus der
Zuflucht kam. Manche Leute kamen nie darüber weg, aber die meisten schafften es
irgendwie, weiterzumachen. Man fand eine Möglichkeit, die Hoffnung nicht ganz
aufzugeben, sie in eine Flasche zu füllen und irgendwo auf ein Regal zu stellen
und die Pflichten des Lebens zu erfüllen. Sanjay selbst hatte es getan, Gloria
und auch Mausami - sie alle.
Aber jetzt war dieses Mädchen da. Alles an ihr
war ein Schlag ins Gesicht der Tatsachen. Dass jemand - zumal ein schutzloses
Kind - plötzlich auftauchte, war so fundamental verstörend wie Schneefall
mitten im Sommer. Sanjay hatte es in den Augen der andern gesehen, bei Old Chou
und Walter Fisher und Soo und Jimmy und dem ganzen Rest. Es war falsch. Es passte nicht.
Hoffnung war etwas, das Schmerzen bereitete, und so war es mit diesem Mädchen.
Eine schmerzhafte Sorte Hoffnung.
Er
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