Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
Vom Netzwerk:
vielleicht schon ganz anders
aussehen. Milo hatte mit unverhohlener Erleichterung reagiert. Okay, gut, hatte
er gesagt. Vielleicht hast du recht. Mal sehen, wie wir morgen früh darüber
denken.
    Und jetzt hatte Sam Gewissensbisse wegen der
Angelegenheit, und ein bisschen verwirrt war er außerdem, denn es passte nicht
zu ihm, so wütend zu werden. Es war überhaupt nicht seine Art. Einen Augenblick
lang da draußen vor dem Gefängnis hatte er es wirklich geglaubt: Jemand musste
dafür bezahlen. Es war völlig gleichgültig gewesen, dass es nur ein wehrloser
Junge war, der wahrscheinlich geglaubt hatte, jemand auf der Mauer habe ihm
befohlen, das Tor zu öffnen. Und das Sonderbarste war eigentlich, dass Sam die
ganze Zeit kaum oder gar nicht an das Mädchen gedacht hatte, an den Walker, und
dabei war sie der Grund dafür, dass die ganze Sache überhaupt passiert war. Er
sah, wie das Licht der Scheinwerfer auf der Dachtraufe über seinem Kopf
glänzte, und fragte sich, wie das hatte kommen können. Mein Gott, dachte er.
Nach all den Jahren - ein Walker. Und nicht bloß ein Walker, sondern ein junges
Mädchen noch dazu. Sam gehörte nicht zu denen, die immer noch glaubten, dass
die Army kommen würde - man musste schon ziemlich dämlich sein, um daran nach
all den Jahren noch zu glauben -, aber ein solches Mädchen hatte etwas zu
bedeuten. Es bedeutete, dass noch jemand am Leben war. Vielleicht sogar viele Menschen. Und als er darüber nachdachte, stellte er fest,
dass ihm diese Vorstellung seltsam ... unbehaglich war. Er hätte nicht genau
sagen können, warum, aber dieses Mädchen von Nirgendwo war ein Mosaikstein, der
nicht ins Bild passte. Und was wäre, wenn all diese Leute plötzlich aus heiterem
Himmel hereinschneiten? Was, wenn sie nur der Anfang einer ganzen Welle von
Walkern wäre, die den Schutz der Scheinwerfer suchten? Lebensmittel und
Brennstoff gab es hier nicht in unbegrenzter Menge. Sicher, in den Anfangstagen
der Kolonie hatte man es wahrscheinlich nicht übers Herz gebracht, die Walker
abzuweisen. Aber war die Situation heute nicht ein bisschen anders? Nach so
langer Zeit? Nachdem alles irgendwie ins Gleichgewicht gekommen war? Denn
Tatsache war, dass Sam Chou sein Leben liebte. Er gehörte nicht zu den
Sorgenmachern, den Bedenkenträgern, den Hütern dunkler Gedanken. Er kannte
solche Leute - Milo war so jemand -, doch Sams Sache war das nicht. Natürlich
konnten schreckliche Dinge passieren, doch das war doch immer schon so gewesen,
und einstweilen hatte er sein Bett und sein Haus und seine Frau und seine
Kinder, sie hatten genug zu essen, sie hatten Kleider, und sie hatten den
Schutz der Scheinwerfer. War das nicht genug? Und je länger Sam darüber
nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass nicht Caleb derjenige war, mit dem
etwas geschehen musste, sondern das Mädchen. Und das würde er Milo morgen früh
vielleicht sagen: Mit diesem Mädchen von Nirgendwo muss etwas geschehen.
     
    Michael Fisher war ebenfalls wach. Die meiste
Zeit betrachtete er Schlafen als Zeitverschwendung, als eine der unsinnigen
Forderungen des Körpers an den Geist. Seine Träume - wenn er überhaupt Lust
hatte, sich an sie zu erinnern - waren allesamt Variationen von dem, was er im
wachen Zustand erlebte: Sie handelten von Schaltkreisen und Unterbrechern und
Relais, von tausend Problemen, die gelöst werden mussten, und wenn er
aufwachte, fühlte er sich nicht erholt, sondern brutal durch die Zeit
katapultiert, ohne dass irgendetwas erreicht worden wäre.
    Aber heute Nacht war es anders. Heute Nacht
hatte Michael Fisher etwas entdeckt. Der Inhalt des Chips, der sich in seiner
gewaltigen Fülle in den Mainframe ergossen hatte - eine wahre Flut von Daten
-, war nicht weniger als eine Neuschreibung der Welt. Diese Erkenntnis ließ
Michael jetzt ein weiteres Risiko eingehen: Er wollte eine Antenne oben auf die
Mauer setzen. Auf dem Dach des Lichthauses hatte er angefangen und eine
Zwanzig-Meter-Spule unisolierten Drei-Millimeter-Kupferdraht mit der Antenne
verbunden, die sie schon vor Monaten im Kamin angebracht hatten. Zwei weitere
Spulen hatten ihn bis an die Mauer gebracht. Mehr Kupferdraht hatte er nicht
übrig. Für den Rest würde er ein isoliertes Hochspannungskabel benutzen, das er
mit der Hand abisolieren musste. Das Problem bestand jetzt darin, das Kabel bis
zur Mauerkrone hinauf zu verlegen, ohne dass die Wache es bemerkte. Er hatte
zwei weitere Spulen aus dem Schuppen geholt, und jetzt stand er in dem

Weitere Kostenlose Bücher