Cronin, Justin
jeder Atemzug war eine Anstrengung. Anscheinend hatte
man sich einen schrecklichen Witz mit ihnen erlaubt: Sie waren vor den Virais
gerettet worden, um dann in einem Truck zu Tode geschmort zu werden. Michael
verfiel immer wieder in einen leichten Schlaf, aber in Wirklichkeit war es
etwas anderes. Ihm war heiß, so heiß. Irgendwann merkte er, dass es bergab
ging, doch dieses Detail erschien ihm trivial, als betreffe es jemand anderen.
Nur nach und nach sickerte ihm ins Bewusstsein,
dass der Wagen angehalten hatte. Er hatte sich in Visionen von Wasser
verloren, von kühlem Wasser. Es rauschte über ihn hinweg und durch ihn
hindurch, und seine Schwester war da, und Elton mit seinem schiefen Lächeln.
Alle waren da, Peter und Mausami und Alicia und sogar seine Eltern, sie alle
schwammen zusammen in diesem Wasser, in diesem heilsamen Blau, und einen
Augenblick lang versuchte Michael ihn zurückzuholen, diesen wunderschönen
Traum vom Wasser.
»Mein Gott«, sagte eine Stimme.
Michael öffnete die Augen und schaute blinzelnd
in ein hartes weißes Licht. Der unverkennbare Geruch von Mist drang ihm in die
Nase. Er drehte das Gesicht zur Tür und sah zwei Gestalten - er wusste, dass er
sie schon einmal gesehen hatte, aber er wusste nicht, wann -, und zwischen
ihnen, in einem gleißenden Gegenlicht, in dem er fast zu schweben schien, stand
ein hochgewachsener Mann mit stahlgrauem Haar. Was er trug, sah aus wie ein
orangegelber Overall. »Mein Gott, mein Gott«, sagte der Mann. »Das sind sieben.
Nicht zu glauben.« Er wandte sich an die beiden andern. »Steht nicht rum. Wir
brauchen Tragen. Beeilt euch.«
Die beiden trabten davon. Ein Gedanke
schlängelte sich in Michaels Kopf: Etwas hier stimmte ganz und gar nicht. Es
war, als passiere das alles am Ende eines Tunnels. Er hätte nicht sagen können,
wo er war oder warum er hier war, aber er spürte, dass dieses Wissen ihn erst
vor Kurzem verlassen hatte. Es war wie ein umgekehrtes Dejá vu. So etwas wie
ein Witz, aber kein bisschen komisch. Ein großer, trockener Klumpen lag in
seinem Mund, dick wie eine Faust, und er begriff, dass es seine eigene Zunge
war, an der er langsam erstickte. Er hörte Peters Stimme, ein mühsames
Krächzen. »Wer ... bist... du?«
»Mein Name ist Olson. Olson Hand.« Ein Lächeln
erhellte das windgegerbte Gesicht, doch es war nicht mehr der silberhaarige
Mann, es war Theo - Theos Gesicht am Ende des Tunnels -, und das war das
Letzte, was Michael sah, bevor der Tunnel einstürzte und er gar nichts mehr
denken konnte.
Es war kein Aufwachen. Eher stieg er langsam an
die Oberfläche, schwebte aufwärts durch Schichten von Dunkelheit, über einen
Zeitraum hinweg, der kurz und zugleich lang war: Eine Stunde wurde zu einem
Tag, ein Tag zu einem Jahr. Die Dunkelheit wich einem Weiß, und nach und nach
fügte sein Bewusstsein sich wieder zusammen. Seine Augen waren offen, und
seine Wimpern bewegten sich auf und ab. Anscheinend konnte kein anderer Teil
seines Körpers sich bewegen, nur seine Lider mit ihrem verdammten Geflatter. Er
hörte Stimmen, die über ihn hinwegwehten wie der Gesang ferner Vögel, die
einander durch einen weiten Himmel riefen. Kalt, dachte er. Ihm war kalt. Wunderbar, fabelhaft kalt.
Er schlief, und als er irgendwann die Augen
wieder öffnete, wusste er, dass er in einem Bett lag, dass das Bett in einem
Zimmer stand und dass er nicht allein war. Den Kopf zu heben kam nicht in
Frage; seine Knochen waren schwer wie Eisen. Der Raum sah aus wie ein Krankenrevier:
weiße Wände und eine weiße Decke. Gleißend helle Lichtstrahlen fielen auf das
weiße Laken, das ihn bedeckte, darunter war er anscheinend nackt. Die Luft war
kühl und feucht. Irgendwo über und hinter sich hörte er das rhythmische Brummen
von Maschinen und das Geräusch von Wasser, das in ein Metallbecken tropfte.
»Michael? Michael, kannst du mich hören?«
Neben seinem Bett saß eine Frau. Er nahm an, es
war eine Frau. Sie hatte dunkles, kurz geschnittenes Haar wie ein Mann. Ihre
Stirn und ihre Wangen waren glatt, ihr Mund klein und schmallippig. Sie schaute
ihn an, und in ihrem Blick lag etwas wie tiefe Besorgnis. Ihm war, als habe er
sie schon einmal gesehen, aber weiter reichte das Wiedererkennen nicht. Ihre
schlanke Gestalt war in einen weiten, orangegelben Anzug gehüllt, der ihm wie
alles andere an ihr irgendwie bekannt vorkam. Hinter ihr stand eine Art
Wandschirm, der ihm die weitere Sicht versperrte.
»Wie geht es dir?«
Er wollte antworten, aber
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