Cronin, Justin
empfand leise Gewissensbisse, die er stets nur
mit etwas Mühe unterdrücken konnte. Er war einfach zu verdammt gut in dem, was
er tat; er verstand es zu gut, die eine Geste, das eine richtige Wort zu
finden. Er verstand diese Männer instinktiv, er konnte in ihnen lesen wie in
einem offenen Buch. Ein Mann brauchte nur lange genug in einer Betonschachtel
zu sitzen und über seinen eigenen Tod nachzudenken, und er kochte zu milchigem
Staub ein, wie das Wasser in einem Teekessel, der vergessen auf dem Herd
gestanden hat. Um ihn zu verstehen, brauchte man nur noch herauszufinden,
woraus dieser Staub bestand - was von ihm übrig war, wenn der Rest seines
Lebens, vergangen und zukünftig, verdunstet war. Meistens war es etwas
Einfaches: Zorn, Trauer, Scham oder schlicht das Bedürfnis nach Vergebung. Ein
paar wenige wollten überhaupt nichts; geblieben war von ihnen nichts als eine
dumpfe, animalische Wut auf die Welt und alle ihre Systeme. Anthony war anders;
Wolgast hatte eine Weile gebraucht, um darauf zu kommen. Anthony war wie ein
menschliches Fragezeichen, der lebende und atmende Ausdruck reiner
Ratlosigkeit. Er wusste wirklich nicht, warum er
in Terrell war. Nicht dass er das Urteil nicht verstanden hatte; das war klar,
und er hatte es akzeptiert, wie es fast alle taten, weil sie mussten. Um das zu
wissen, brauchte man nur die letzten Worte von Todeskandidaten zu lesen. »Sagt
allen, dass ich sie liebe. Es tut mir leid. Okay, Leute, bringen wir's hinter
uns.« Immer ging es in diese Richtung, und es überlief einen kalt, wenn man die
Worte las, wie Wolgast es seitenweise getan hatte. Aber bei Anthony Carter
fehlte immer noch ein Puzzlesteinchen. Das war Wolgast klar geworden, als er
gesehen hatte, wie der Mann die Trennscheibe berührt hatte - und sogar schon
vorher, als er nach Rachel Woods Ehemann gefragt und, ohne es auszusprechen,
gesagt hatte, es tue ihm leid. Ob Carter sich nicht daran erinnerte, was an
jenem Tag im Garten der Woods passiert war, oder ob es ihm nicht gelang, aus
seinen Handlungen den Mann zusammenzufügen, für den er sich selbst hielt -
Wolgast wusste es nicht. So oder so, Anthony Carter musste dieses Stückchen
seiner selbst finden, bevor er starb.
Von seinem Platz aus konnte Wolgast durch die
hohen Fenster des Terminals auf die Rollbahn sehen. Die Sonne ging unter, und
ihre letzten Strahlen blinkten hell auf den Rümpfen der geparkten Flugzeuge.
Der Heimflug war jedes Mal eine Wohltat. Ein paar Stunden in der Luft, hinter
dem Sonnenuntergang her, und er war wieder er selbst. Er trank nichts, las und
schlief auch nie, sondern saß einfach nur ganz still da, atmete die
abgestandene Luft des Flugzeugs und schaute starr aus dem Fenster, während die
Erde unter ihm in der Dunkelheit verschwand. Einmal, auf dem Rückflug von
Tallahassee, war das Flugzeug um eine Gewitterfront herumgeflogen, die so groß
war, dass sie aussah wie ein fliegendes Gebirge, und das wabernde Innere war
von Blitzen erleuchtet gewesen wie eine Weihnachtskrippe. Eine Nacht im
September: Sie waren irgendwo über Oklahoma, vermutete er, oder Kansas,
jedenfalls über einer flachen, leeren Landschaft. Vielleicht war es auch weiter
im Westen. In der Kabine war es dunkel. Fast alle im Flugzeug schliefen, auch
Doyle, der neben ihm saß und sich ein Kissen unter die stoppelbärtige Wange
geklemmt hatte. Volle zwanzig Minuten lang flog das Flugzeug am Rand des
Gewitters entlang, ohne auch nur einmal zu bocken. In seinem ganzen Leben hatte
Wolgast noch nie solch ein gigantisches Naturschauspiel gesehen, noch nie die
immense Gewalt der Natur so direkt vor Augen geführt bekommen. Die Luft im
Innern des Gewitters war ein Tumult aus purer atmosphärischer Hochspannung, und
doch saß er hier, von Stille umhüllt, jagte dahin mit nichts als dreißigtausend
Fuß Luft unter sich und beobachtete das alles, als wäre es ein Film auf einer
Leinwand, ein Stummfilm. Er wartete darauf, dass die näselnde Stimme des
Piloten knisternd aus den Lautsprechern kam und etwas über das Wetter sagte,
damit die anderen Passagiere die Show ebenfalls genießen könnten, aber das
geschah nicht, und als sie mit vierzig Minuten Verspätung in Denver gelandet
waren, hatte Wolgast es auch nicht erwähnt, nicht einmal Doyle gegenüber.
Jetzt dachte er, dass er gern Lila anrufen und
ihr davon erzählen würde. Das Bedürfnis war so stark, so klar in seinem Kopf,
dass es einen Augenblick dauerte, bis er begriff, wie verrückt es war, und dass
es nur die
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