Cronin, Justin
Mädchen sah sich in der Küche um, hastig und
beinahe verstohlen. »Kann ich Peter haben?«
Lacey überlegte kurz. Ein Bruder? Der Vater?
»Natürlich«, sagte sie. »Aber wer ist Peter, Amy?«
»Er ist im Rucksack«, sagte das Mädchen.
Lacey war erleichtert: Die erste Bitte des
Kindes war etwas, das sie leicht erfüllen konnte. Sie zog den Hasen aus dem
Rucksack. Er war aus Baumwollplüsch und an manchen Stellen glänzend
verschlissen, ein kleiner Hasenjunge mit schwarzen Knopfaugen und
drahtverstärkten Ohren. Lacey reichte ihn Amy, und die setzte ihn schroff auf
ihren Schoß.
»Amy«, begann Lacey, »wo ist deine Mutter
hingegangen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Und Peter?«, fragte Lacey. »Weiß Peter es?
Könnte er es mir sagen?«
»Er weiß nichts«, sagte Amy. »Er ist
ausgestopft.« Sie runzelte tief die Stirn. »Ich will ins Motel zurück.«
»Sag mir«, bat Lacey, »wo ist das Motel, Amy?«
»Das darf ich nicht sagen.«
»Ist es ein Geheimnis?«
Das Mädchen nickte und starrte auf die
Tischplatte. Ein so großes Geheimnis, dass sie nicht einmal laut sagen konnte,
es sei eins, dachte Lacey.
»Ich kann dich nicht hinbringen, wenn ich nicht
weiß, wo es ist, Amy. Möchtest du das denn gern? Zurück ins Motel?«
»Es ist an der großen Straße.« Amy zupfte an
ihrem Ärmel. »Und da wohnst du mit deiner Mutter?«
Amy sagte nichts. Sie hatte eine Art, weder zu
schauen noch zu sprechen und selbst in Anwesenheit einer anderen Person ganz
mit sich allein zu sein, wie Lacey sie noch nie erlebt hatte. Es war fast ein
bisschen beängstigend. So als sei sie, Lacey, verschwunden.
»Ich habe eine Idee«, verkündete Lacey.
»Möchtest du ein Spiel spielen, Amy?«
Das Kind beäugte sie skeptisch. »Was für eins?«
»Ich nenne es >Geheimnisse<. Es geht ganz
einfach. Ich verrate dir ein Geheimnis, und dann verrätst du mir eins.
Verstehst du? Ein Tausch. Mein Geheimnis gegen deins. Wie findest du das?«
Amy zuckte die Achseln. »Okay.«
»Also, dann fange ich an. Hier kommt mein
Geheimnis. Einmal, als ich noch so klein war wie du, bin ich von zu Hause
weggelaufen. Das war in Sierra Leone, wo ich herkomme. Ich war sehr wütend auf
meine Mutter, weil sie mir nicht erlauben wollte, mir eine Zirkustruppe anzusehen,
bevor ich meine Schulaufgaben erledigt hatte. Ich wollte unbedingt dorthin,
denn ich hatte gehört, sie zeigten Kunststücke mit Pferden, und ich war
verrückt nach Pferden. Ich wette, du hast Pferde auch gern, oder, Amy?«
Das Mädchen nickte. »Glaub schon.«
»Jedes Mädchen hat Pferde gern. Aber ich - ich
habe sie geliebt! Um meiner Mutter zu zeigen, wie wütend ich war, weigerte ich
mich, meine Hausaufgaben zu machen, und da schickte sie mich auf mein Zimmer.
Oh, ich war so was von wütend! Ich stampfte in meinem Zimmer auf und ab wie
eine Verrückte. Und dann dachte ich, wenn ich weglaufe, wird es ihr schon
leidtun, dass sie mich so behandelt hat. Dann darf ich von jetzt an tun, was
ich möchte. Das war sehr dumm, aber ich dachte es trotzdem. Und in der Nacht,
als meine Eltern und meine Schwestern alle schliefen, schlich ich mich aus dem
Haus. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte; also versteckte ich mich in den
Feldern hinter unserem Garten. Es war kalt und sehr dunkel. Ich wollte die
ganze Nacht dableiben; am Morgen würde ich dann hören können, wie meine Mutter
meinen Namen rief, wenn sie aufwachte und merkte, dass ich nicht mehr da war.
Aber ich schaffte es nicht. Irgendwann fing ich an zu frieren und bekam Angst.
Ich ging wieder nach Hause und ins Bett, und niemand hat je erfahren, dass ich
weg gewesen war.« Sie sah Amy an, die sie aufmerksam beobachtete, und
lächelte, so gut sie konnte. »So. Diese Geschichte habe ich noch niemandem
erzählt, bis heute. Du bist der erste Mensch in meinem Leben, der sie hört. Was
sagst du dazu?«
Das Mädchen sah Lacey gespannt an. »Du bist
einfach wieder nach Hause gegangen?«
Lacey nickte. »Weißt du, ich war nicht mehr so
wütend. Und am nächsten Morgen kam mir alles so vor, als hätte ich es geträumt.
Ich wusste nicht mehr genau, ob es wirklich passiert war, aber heute, viele Jahre
später, weiß ich es.« Aufmunternd tätschelte sie Amys Hand.
»Jetzt bist du an der Reihe. Hast du ein
Geheimnis, das du mir erzählen kannst?«
Amy senkte den Kopf und schwieg.
»Ein kleines wenigstens?«
»Ich glaube, sie kommt nicht wieder«, sagte Amy.
Die Polizisten, die auf den Anruf hin erschienen
- ein Mann und eine Frau -, kamen
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