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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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Zeitmaschine war, die da redete. Die Zeitmaschine: Diese Bezeichnung
hatte die Psychologin dafür gehabt. Sie war eine Freundin Lilas aus der Klinik,
zu der sie nur zweimal gegangen waren: eine Frau von etwas über dreißig Jahren
mit langem, vorzeitig ergrautem Haar und großen Augen, die ständig feucht vor
Mitgefühl waren. Zu Beginn jeder Sitzung streifte sie die Schuhe ab und zog
die Beine unter sich wie eine Sommercamp-Betreuerin, die jetzt mit ihnen singen
würde, und sie sprach so leise, dass Wolgast sich auf dem Sofa vorbeugen
musste, um sie zu verstehen. Von Zeit zu Zeit, erklärte sie mit ihrer zarten
Stimme, werde Wolgasts und Lilas Verstand ihnen Streiche spielen. Wie sie es
sagte, war es keine Warnung; sie konstatierte lediglich eine Tatsache. Er und
Lila würden irgendetwas sehen oder tun, und plötzlich würde sie ein starkes Gefühl
aus der Vergangenheit überkommen. Vielleicht würden sie zum Beispiel
unversehens mit einer Packung Windeln im Einkaufswagen in der Kassenschlange
im Supermarkt stehen, oder sie würden auf Zehenspitzen an Evas Zimmer
vorbeigehen, als schlafe sie. Das würden die schwersten Augenblicke sein,
erklärte die Frau, denn dabei würden sie den Verlust noch einmal durchleben;
aber im Laufe der Zeit, versicherte sie ihnen, würde es immer seltener
vorkommen.
    Das Merkwürdige war nur, dass es für ihn keine
schweren Augenblicke waren. Es passierte ihm immer noch hin und wieder, noch
nach drei Jahren, und wenn es geschah, hatte er überhaupt nichts dagegen, ganz
im Gegenteil. Es waren unerwartete Geschenke, die sein Gehirn ihm hin und
wieder machte. Aber für Lila war es anders; das wusste er.
    »Agent Wolgast?«
    Er drehte sich um. Der schlichte graue Anzug,
die preiswerten, aber bequemen Oxfordschuhe, die farblose, unauffällige
Krawatte - Wolgast hätte ebenso gut in den Spiegel schauen können. Doch das
Gesicht war ihm neu.
    Er stand auf und zog seinen Ausweis. »Der bin
ich.«
    »Special Agent Williams, Büro Houston.« Sie
wechselten einen Händedruck. »Ich fürchte, diese Maschine wird ohne Sie
fliegen. Ich habe draußen einen Wagen für Sie.«
    »Gibt es was Neues?«
    Williams holte einen Umschlag aus der Tasche.
»Ich glaube, Sie möchten das hier.«
    Wolgast nahm den Umschlag. Er enthielt ein Fax.
Er setzte sich hin und las es, und dann las er es noch einmal. Er las immer
noch, als Doyle zurückkam; er trank etwas durch einen Strohhalm und hatte eine
Tüte von Taco Bell in der Hand.
    Wolgast hob den Kopf und sah Williams an. »Geben
Sie uns einen Augenblick Zeit, ja?«
    Williams wandte sich ab und spazierte durch die
Halle davon.
    »Was ist los?«, fragte Doyle leise. »Stimmt was
nicht?«
    Wolgast schüttelte den Kopf. Er reichte Doyle
das Fax.
    »Herr im Himmel, Phil. Es ist ein Zivilist.«
     
    4
     
    Schwester Lacey Antoinette Kudoto wusste nicht,
was Gott wollte; aber sie wusste, er wollte etwas.
    Soweit sie zurückdenken konnte, hatte die Welt
so zu ihr gesprochen, flüsternd und murmelnd: im Rascheln der Palmwedel im
Meereswind über dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, im Plätschern des kühlen
Wassers auf den Steinen im Bach hinter ihrem Haus, sogar in den geschäftigen
Geräuschen, die die Menschen machten, in den Motoren und Maschinen und Stimmen
der menschlichen Welt. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, nicht mehr als
sechs oder sieben Jahre alt, als sie Schwester Margaret, die Leiterin der
Klosterschule in Port Loko, gefragt hatte, was sie da hörte. Die Schwester
hatte gelacht. Lacey Antoinette, hatte
sie gesagt. Ich muss mich über dich wundern. Weißt du es
denn nicht? Sie hatte die Stimme gesenkt und war sehr nah
herangekommen. Das ist die Stimme Gottes.
    Dabei wusste sie es sehr wohl. In dem Moment,
als die Schwester es gesagt hatte, begriff Lacey, dass sie es immer schon
gewusst hatte. Sie erzählte niemandem sonst von dieser Stimme. Die Art, wie
die Schwester mit ihr gesprochen hatte, als sei es etwas, das nur sie beide
wüssten, verriet ihr, dass das, was sie im Wind und in den Blättern hörte, im
Gewebe des Daseins an sich, ein Geheimnis zwischen ihnen beiden war. Es gab
Zeiten, da dieses Gefühl zurückging, manchmal für Wochen oder sogar einen
ganzen Monat lang; dann wurde die Welt wieder zu einem ganz gewöhnlichen Ort
mit gewöhnlichen Dingen. Sie war davon überzeugt, dass die meisten Leute die
Welt so empfanden, selbst diejenigen, die ihr am nächsten standen, ihre Eltern
und Schwestern und ihre Freundinnen in der Schule; sie

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