Cronin, Justin
verbrachten ihr ganzes
Leben in einem Gefängnis aus trister Stille, in einer Welt ohne Stimme. Weil
sie das wusste, war sie manchmal so traurig, dass sie tagelang nicht aufhören
konnte zu weinen, und dann gingen ihre Eltern mit ihr zum Arzt, zu einem
Franzosen mit langen Koteletten, der Bonbons lutschte, die nach Kampfer rochen,
der sie bepiekste und befühlte und sie von oben bis unten mit der eiskalten
Scheibe seines Stethoskops berührte, ohne je etwas zu finden. Wie
furchtbar, dachte sie, wie
furchtbar, so zu leben, ganz allein für alle Zeit. Aber
dann ging sie eines Tages durch die Kakaofelder zur Schule, oder sie aß mit
ihren Schwestern zu Abend, oder sie tat gar nichts, betrachtete nur einen
Stein auf dem Boden oder lag wach in ihrem Bett - und dann hörte sie es wieder:
die Stimme, die eigentlich keine Stimme war, die aus ihrem Innern kam und
zugleich von überallher um sie herum, ein gedämpftes Flüstern, das nicht aus
Tönen zu bestehen schien, sondern aus dem Licht selbst, und das so sanft über
sie hinwegwehte wie eine Brise über dem Wasser. Als sie achtzehn war und zu den
Schwestern ging, wusste sie, was es war, und dass es ihren Namen rief. Lacey, sagte die Welt zu ihr. Lacey.
Hör zu.
Und jetzt hörte sie es auch, viele Jahre später
und einen Ozean weit entfernt, hier in der Küche des Konvents der Barmherzigen
Schwestern in Memphis, Tennessee.
Nicht lange, nachdem die Mutter gegangen war,
hatte sie den Zettel im Rucksack des Mädchens gefunden. Etwas an dieser
Situation hatte ihr Unbehagen bereitet, und als sie das Mädchen ansah, erkannte
sie, was es war: Die Frau hatte ihr nicht gesagt, wie das Mädchen hieß. Das
Kind war offensichtlich ihre Tochter - das gleiche dunkle Haar, die gleiche
helle Haut und die langen Wimpern, deren Enden aufwärts gebogen waren, als
habe ein leiser Wind sie erfasst. Sie war hübsch, aber ihr Haar musste dringend
gekämmt werden - es war an manchen Stellen verfilzt wie bei einem Hund -, und
am Tisch hatte sie ihre Jacke angelassen, als sei sie es gewohnt, einen Ort
eilig zu verlassen. Sie sah gesund aus, wenn auch ein bisschen dünn. Ihre Hose
war zu kurz und starr vor Schmutz. Als das kleine Mädchen seine Kekse restlos
aufgegessen hatte, setzte Lacey sich auf den Stuhl neben ihr und fragte sie,
ob sie etwas in ihrem Rucksack habe, womit sie spielen wolle, oder ein Buch,
das sie zusammen lesen könnten. Das kleine Mädchen, das noch kein Wort gesprochen
hatte, nickte nur und schob den Rucksack von seinem Schoß herüber. Lacey
betrachtete ihn; er war pinkfarben und mit irgendwelchen Cartoonfiguren beklebt
- ihre riesigen schwarzen Augen ähnelten denen des Kindes -, und sie dachte an
das, was die Frau ihr erzählt hatte: dass sie ihre Tochter zur Schule habe
bringen wollen.
Sie zog den Reißverschluss auf und fand den
Stoffhasen, zusammengerollte Unterhosen, Söckchen, ein Etui mit einer
Zahnbürste und eine halb leere Schachtel mit Erdbeer-Müsliriegeln. Sonst war
nichts in diesem Rucksack - doch dann entdeckte sie das kleine
Reißverschlussfach an der Seite. Es war zu spät für die Schule, erkannte Lacey,
und das Mädchen hatte keine Lunchdose und keine Bücher. Sie hielt den Atem an
und öffnete das Reißverschlussfach. Darin fand sie das zusammengefaltete Blatt
aus einem Notizblock.
Es tut mir leid. Sie heißt Amy. Sie ist sechs
Jahre alt.
Lacey betrachtete es lange. Nicht die Worte -
deren Bedeutung war klar genug. Was sie betrachtete, war der Platz um die Worte
herum, eine ganze weiße Seite, leer. Drei winzige Sätze waren alles, was dieses
Kind auf der Welt besaß, um zu erklären, wer es war, nur drei Sätze und ein
paar Kleinigkeiten in einem Rucksack. Es war bei Weitem das Traurigste, was
Lacey Antoinette Kudoto in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. So traurig, dass
sie nicht einmal weinen konnte.
Es hatte keinen Sinn, der Frau nachzulaufen. Sie
war inzwischen längst weg. Und was sollte Lacey auch tun, wenn sie sie fände?
Was könnte sie sagen? Ich glaube, Sie haben
etwas vergessen. Ich glaube, da ist Ihnen ein Irrtum unterlaufen. Aber
es war kein Irrtum. Lacey war klar, dass die Frau genau das getan hatte, was
sie vorgehabt hatte.
Lacey faltete das Blatt zusammen und schob es in
ihre tiefe Rocktasche.
»Amy«, sagte sie, und genau wie Schwester
Margaret es vor all den Jahren auf dem Schulhof in Port Loko getan hatte,
beugte sie sich nah an das Gesicht des Mädchens heran. Sie lächelte. »Heißt du
so, Amy? Das ist ein schöner Name.«
Das
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