Cronin, Justin
es
nicht gelesen wurde.
Carter nickte langsam. »Die hab ich immer
gemocht. Schon als sie First Lady war.«
Wolgast ließ den Irrtum unkommentiert. »Sie ist
nur eine von denen, für die ich arbeite, Anthony. Es gibt noch andere. Sie
würden vielleicht ein paar der Namen kennen, die ich Ihnen nennen könnte, aber
das darf ich nicht. Man hat mich gebeten, Sie zu besuchen und Ihnen zu sagen,
wie sehr Sie gebraucht werden.«
»Sie wollen mich also hier rausholen? Aber Sie
können mir nicht sagen, worum es geht?«
»So sieht's praktisch aus, Anthony. Sagen Sie
nein, und ich bin weg. Sagen Sie ja, und Sie können Terrell noch heute Abend
verlassen. So einfach ist das.«
Die Tür hinter Carter öffnete sich wieder. Doyle
kam mit dem Tee herein. Er hatte getan, was Wolgast ihm aufgetragen hatte: Er
balancierte das Glas auf einer Untertasse mit einem langen Löffel und einer
Zitronenspalte und ein paar Päckchen Zucker. Das alles stellte er vor Carter
hin. Carter sah das Glas an, und sein Gesicht erschlaffte. Wolgast ging ein
Licht auf. Anthony Carter war nicht schuldig, zumindest nicht so, wie das
Gericht es dargestellt hatte. Bei den andern war von Anfang an klar gewesen,
womit er es zu tun hatte: Die Story war die Story. Aber nicht hier. Etwas war
an jenem Tag im Garten passiert, und die Frau war gestorben. Aber das war noch
nicht alles, längst noch nicht. Er sah Carter an und spürte, wie sein Geist in
einen dunklen Raum eindrang, in einen Raum ohne Fenster und mit einer
verschlossenen Tür. Hier, das wusste er, würde er Anthony Carter finden - in
der Dunkelheit würde er ihn finden -, und dann würde Carter ihm den Schlüssel
zeigen, der die Tür aufschließen konnte.
Carter blickte starr auf die Scheibe. »Ich will
bloß ...«, fing er an.
Wolgast wartete darauf, dass er den Satz zu Ende
brachte, aber er tat es nicht. »Was wollen Sie, Anthony? Sagen Sie's mir.«
Carter hob seine freie Hand, legte sie seitlich
an die Scheibe und strich mit den Fingern daran herunter. Das Glas war kühl und
ein bisschen beschlagen; Carter nahm die Hand weg und rieb einen Wassertropfen
zwischen Daumen und Fingern, und sein Blick war völlig auf diese Bewegung
gerichtet. Seine Konzentration war so intensiv, dass Wolgast spüren konnte, wie
der Mann sein ganzes Denken dafür öffnete und sie aufnahm. Es war, als sei das
Gefühl des kühlen Wassers an seinen Fingerspitzen der Schlüssel zu jedem
Geheimnis seines Lebens. Er schaute auf und sah Wolgast an.
»Ich brauche Zeit ... um das zu kapieren«, sagte
er leise. »Was mit der Lady passiert ist.«
Noahs ganzes Alter ward neunhundertfünfzig Jahre
...
»Die Zeit kann ich Ihnen geben, Anthony«, sagte
Wolgast. »Alle Zeit der Welt. Unendlich viel«
Noch ein Augenblick verstrich. Dann nickte
Carter.
»Was muss ich tun?«
Wolgast und Doyle erreichten den
George-Bush-Intercontinental-Airport kurz nach sieben. Der Verkehr war
mörderisch, aber sie hatten immer noch neunzig Minuten Zeit. Sie lieferten den
Leihwagen ab und fuhren mit dem Shuttle zum Inlands-Terminal. Mit Hilfe ihrer
Ausweise umgingen sie die Sicherheitskontrolle und schlängelten sich durch das
Gedränge zum Gate am hinteren Ende des Terminals.
Doyle verzog sich, um etwas zu essen
aufzutreiben; Wolgast hatte keinen Hunger, obwohl er wusste, dass er seine
Entscheidung später bedauern würde, erst recht, wenn der Flug sich verspätete.
Er warf einen Blick auf seinen BlackBerry. Immer noch nichts von Sykes. Das war
gut. Er wollte jetzt nur noch raus aus Texas. Am Gate warteten nur wenige
andere Passagiere: zwei Familien, ein paar Studenten mit Blu-ray- oder
iPod-Stöpseln in den Ohren, eine Handvoll Männer in Anzügen, die telefonierten
oder auf Laptops tippten. Wolgast schaute auf die Uhr: fünf vor halb acht.
Inzwischen würde Anthony Carter hinten in einem Van sitzen und auf dem Weg nach
El Reno sein, und er hinterließ nichts als einen Wirbel von geschredderten
Dokumenten und die verblassende Erinnerung daran, dass er überhaupt jemals
existiert hatte. Wenn der Tag zu Ende wäre, würde sogar seine
Bundespersonennummer gelöscht sein; dann wäre der Mann namens Anthony Carter
nur noch ein Gerücht, nicht mehr als eine verplätschernde Welle auf der
Oberfläche der Welt.
Wolgast lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und
merkte plötzlich, wie erschöpft er war. Es überkam ihn immer so - als öffne
sich unversehens eine geballte Faust. Nach diesen Reisen war er körperlich und
emotional ausgehöhlt, und er
Weitere Kostenlose Bücher