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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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unaufrichtig, als sei nichts weiter dahinter. Jude stand
neben Olson. Er zeigte seine makellosen Zähne, und der Blick seiner blauen Augen
huschte an Peter vorbei ins Halbdunkel der Baracke. Nur Billie konnte anscheinend
gar nichts aus der Fassung bringen. Ihr stoisches Gesicht verriet keine Regung.
    »Bitte kommt jetzt, alle«, drängte Olson. »Das
Warten ist zu Ende. Alle sind schon sehr gespannt auf euch.«
    Sie führten die sieben über den leeren Platz.
Alicia schwang sich auf ihren Krücken voran, Amy folgte ihr. Wachsam und
schweigend betraten sie ein Labyrinth von anderen Baracken. Sie schienen
schachbrettartig angeordnet zu sein, mit Durchgängen zwischen den einzelnen
Häusern, und offensichtlich waren sie bewohnt: In den Fenstern leuchteten Öllampen,
und an Leinen zwischen den Häusern hing Wäsche, steif vom Wüstenwind. Dahinter
ragte der Klotz des alten Gefängnisses wie ein Scherenschnitt vor dem Himmel
auf. Sie waren im Dunkeln unterwegs, ohne schützendes Flutlicht, nicht einmal
mit einem Messer bewaffnet: Noch nie hatte Peter sich so seltsam gefühlt.
Irgendwoher wehte ihnen der Geruch von Rauch und kochendem Essen entgegen, und
sie hörten Stimmengewirr, das allmählich lauter wurde.
    Sie bogen um eine Ecke und sahen eine große
Menschenmenge unter einem breiten Dach versammelt, das auf dicken Stahlträgern
ruhte. Der Raum darunter war nach allen Seiten offen und beleuchtet von qualmenden
Flammen in offenen Tonnen, die ringsherum standen. An einer Seite standen lange
Tische und Stühle, und Gestalten in Overalls trugen Töpfe mit Essen aus einem
Nachbargebäude herüber. Alle erstarrten.
    Aus dem Meer von Gesichtern, die sie anstarrten,
erhob sich erst eine, dann noch eine Stimme, und dann ging es aufgeregt
durcheinander. Da sind sie! Die Reisenden! Die von
draußen!
    Die Menge umringte sie, und Peter hatte das
Gefühl, sanft verschlungen zu werden. Überflutet von einer menschlichen Woge,
vergaß er für einen Augenblick alle seine Sorgen. Hier waren Menschen, Hunderte
von Menschen, Männer, Frauen und Kinder, und alle waren offenbar so beglückt
von ihrer Anwesenheit, dass er sich beinahe fühlte wie das Wunder, von dem
Olson geredet hatte. Männer klopften ihm auf die Schulter und schüttelten ihm
die Hand. Ein paar Frauen hielten ihm Babys entgegen, als seien es Geschenke,
und andere berührten ihn nur kurz und liefen gleich wieder weg - verlegen oder
ängstlich oder nur von ihren Gefühlen überwältigt. Irgendwo am Rand ermahnte
Olson die Leute, ruhig zu bleiben und die Gäste nicht zu überrennen, doch diese
Warnung war unnötig. Wir sind so glücklich,
euch zu sehen, sagten alle. Wir
sind so froh, dass ihr gekommen seid.
    So ging es ein paar Minuten lang, bis Peter
allmählich erschöpft war von all dem Lächeln und den Berührungen und endlosen
Begrüßungen. Der Gedanke, neue Leute kennenzulernen - von Hunderten ganz zu
schweigen -, war so neu und fremdartig, dass sein Verstand ihn kaum fassen
konnte. Sie hatten etwas Kindliches an sich, dachte er plötzlich, diese Männer
und Frauen in ihren verschlissenen orangegelben Overalls. Ihre Gesichter
wirkten verhärmt, aber in ihren großen Augen lag ein Ausdruck von Unschuld, von
Gehorsam beinahe. Ihre Herzlichkeit war unbestreitbar, trotzdem wirkte das
Ganze inszeniert, nicht spontan, sondern darauf angelegt, genau die Reaktion zu
wecken, die Peter gezeigt hatte: das Gefühl völliger Entwaffnung.
    Alle diese Überlegungen gingen ihm durch den
Kopf, während er sich zugleich bemühte, die andern im Auge zu behalten, was
sich als schwierig erwies. Durch den Ansturm der Menge waren sie getrennt
worden, und die andern tauchten nur hier und da kurz auf: Saras blonder Kopf
schimmerte hinter der Schulter einer Frau mit einem Baby auf dem Arm, und
irgendwo hinten hörte er Caleb lachen. Rechts von ihm drängte sich eine ganze
Traube von Frauen um Mausami. Sie gurrten beifällig, und Peter sah, wie eine
die Hand ausstreckte und Mausamis Bauch berührte.
    Dann war Olson an seiner Seite. Bei ihm war
seine Tochter Mira.
    »Dieses Mädchen, Amy«, sagte Olson, und zum
ersten Mal sah Peter, dass der Mann die Stirn runzelte. »Sie kann nicht
sprechen?«
    Amy stand dicht neben Alicia, umringt von
kleinen Mädchen, die auf sie zeigten und hinter vorgehaltener Hand lachten.
Peter sah, wie Alicia eine Krücke hob, um sie zu verscheuchen. Die Gebärde war
halb scherzhaft, halb ernst gemeint, und die Mädchen stoben auseinander. Sie
sah Peter kurz in die

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