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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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neben ihm stand, spürte er, dass etwas
in seinem Bruder fehlte. Irgendetwas war verändert, zerbrochen oder
verschwunden. Etwas hatte man ihm gestohlen, in der Zelle. In diesem Traum. Bei
Babcock.
    Um Alicia machte er sich jedoch die größten
Sorgen. Sie stand mit Michael am Fußende des Grabs und hielt ein Schrotgewehr
vor der Brust. Ihr Gesicht war immer noch verschwollen vom Weinen. Sie sprach
kein Wort. Jeder andere hätte angenommen, sie trauere einfach um Caleb, aber
Peter kannte sie besser. Sie hatte den Jungen geliebt, und das machte alles
nur noch schwerer. Sie alle hatten ihn gemocht. Dass Caleb nicht mehr da war,
war ein seltsames Gefühl - als sei ein Stück von ihnen abgeschnitten worden.
Aber was Peter jetzt sah, wenn er in Alicias Augen schaute, war ein tieferer
Schmerz. Es war nicht ihre Schuld, dass Caleb tot war, und das hatte er ihr
auch gesagt. Trotzdem glaubte sie, sie habe ihn im Stich gelassen. Olson zu
töten hätte nichts daran geändert, doch Peter wurde den Gedanken nicht los,
dass es ihr geholfen hätte. Vielleicht hatte er deshalb nicht nachdrücklicher
versucht, ihr Judes Revolver wegzunehmen. Eigentlich hatte er es überhaupt
nicht versucht.
    Gewohnheitsmäßig wartete er darauf, dass sein
Bruder sprach, dass er den Befehl gab, der den Tag in Gang bringen würde. Als
Theo es nicht tat, hob Peter sein Bündel hoch und übernahm die Sache.
    »Tja«, sagte er. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
»Wir sollten jetzt wohl aufbrechen. Das Tageslicht ausnutzen.«
    »Da draußen sind vierzig Millionen Smokes«,
sagte Michael düster. »Welche Chance haben wir zu Fuß?«
    In diesem Augenblick trat Amy zu ihnen. »Er irrt
sich«, sagte sie.
    Einen Moment lang waren alle sprachlos. Keiner
schien zu wissen, wohin er schauen sollte. Sollten sie Amy ansehen oder
einander? Erschrockene und verblüffte Blicke gingen im Kreis herum.
    »Sie kann sprechen?«, fragte
Alicia.
    Peter ging langsam auf das Mädchen zu. Jetzt,
nachdem er ihre Stimme gehört hatte, sah ihr Gesicht anders aus. Es war, als
sei sie endlich eine von ihnen.
    »Was hast du gesagt?«
    »Michael irrt sich«, stellte das Mädchen fest.
Ihre Stimme war nicht die einer Frau und nicht die eines Kindes, sondern etwas
dazwischen. Sie sprach ausdruckslos und ohne Betonung, als lese sie die Worte
aus einem Buch ab. »Es gibt keine vierzig Millionen.«
    Peter wusste nicht, sollte er lachen oder
weinen? Nach all dem fing sie auf einmal an zu sprechen!«
    »Amy, warum hast du noch nie etwas gesagt?«
    »Tut mir leid. Ich glaube, ich hatte vergessen,
wie es geht.« Sie runzelte die Stirn und schien in sich hineinzuschauen, als
mache ihr dieser Gedanke Kopfzerbrechen. Dann schüttelte sie ihn ab. »Aber
jetzt weiß ich es wieder.«
    Wieder starrten alle sie in stummem Erstaunen
an.
    »Und wenn es keine vierzig Millionen gibt«,
fragte Michael, »wie viele sind es dann?«
    Amy hob den Kopf und sah sie einen nach dem
anderen an.
    »Zwölf«, sagte sie.
     
    Teil
IX
     
    Die letzte Expeditionärin
     
    Ich bin, was aus des Vaters Haus an Töchtern
    Und auch von Brüdern blieb.
    Shakespeare, Was
Ihr wollt
     
    56
     
    Aus dem Tagebuch der Sara
Fisher (»Das Buch Sara«)
    Vorgelegt auf der Dritten Internationalen Tagung
zur Nordamerikanischen Quarantäne-Periode
    Zentrum zur Erforschung menschlicher Kulturen
und Konflikte University of New South Wales, Indo-Australische Republik 16. -
21. April 1003 n.V.
     
    [...] stießen wir auf den Obstgarten - sehr zu
unserer Freude, denn keiner von uns hatte auch nur annähernd genug gegessen,
seit Hollis vor drei Tagen den Bock geschossen hatte. Jetzt sind wir
vollgepackt mit Äpfeln. Sie sind klein und verwurmt, und wenn man zu viele auf
einmal isst, kriegt man Krämpfe, aber es tut gut, mal wieder einen vollen
Bauch zu haben. Heute übernachten wir in einem rostigen Wellblechschuppen; er
ist voll mit alten Autos, und es stinkt nach Taubenmist. Die Straße haben wir
jetzt anscheinend endgültig verloren, aber Peter meint, wenn wir weiter
geradewegs nach Osten gehen, müssten wir morgen oder übermorgen auf den Highway
15 stoßen. Die Karte, die wir in der Tankstelle in Caliente gefunden haben, ist
das Einzige, woran wir uns orientieren können.
     
    Amy spricht jeden Tag ein bisschen mehr. Es ist
immer noch neu für sie, einfach mit jemandem zu reden, und manchmal scheint sie
nach Worten zu ringen, als habe sie ein Buch im Kopf, in dem sie den richtigen
Ausdruck sucht. Aber ich sehe ihr an, dass es sie glücklich

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