Cronin, Justin
weiter.
Manchmal frage ich mich, ob wir auf etwas
Schreckliches zugehen, schrecklicher, als wir alle es uns vorstellen können.
Tag 67
Heute sind wir an einer verrosteten Tafel am
Straßenrand vorbeigekommen, auf der stand: »Paradox -2387 Einw.« Ich glaube,
wir sind da, sagte Peter und zeigte es uns allen auf der Landkarte.
Wir sind in Colorado.
57
Endlich senkte sich das Bergland in ein weites
Tal hinab. Endlos lag es in der Herbstsonne unter einem azurblauen
Himmelsgewölbe. Das hohe Gras war verdorrt, die Äste der Bäume waren kahl oder
trugen nur noch ein paar Blätter, die Nachzügler, ausgebleicht wie Knochen. Sie
flatterten im Wind wie winkende Hände und raschelten wie altes Papier. Der
Boden war trocken, doch in den Gräben strömte das Wasser. Sie füllten ihre
Flaschen damit, und es war kalt wie Eis an ihren Zähnen. Der Winter lag in der
Luft.
Sie waren nur noch zu sechst, und sie zogen
durch das leere Land wie Besucher einer vergessenen Welt, einer Welt ohne
Gedächtnis, in der die Zeit stehen geblieben war. Hier und da das Gerippe einer
Farm, ein verrosteter Laster, dessen Kühlergrill die Zähne bleckte wie ein Totenschädel,
und kein Geräusch außer dem Wind und dem Zirpen der Grillen, die vor ihnen
durch das Gras schwirrten. Sie kamen mühelos voran, aber das würde nicht so
bleiben. Ein weißer Strich, der quer über den fernen Horizont gemalt war,
erzählte von Bergen, die bald kommen würden.
Sie übernachteten in einer Scheune an einem
Fluss. Altes Zaumzeug hing an den Wänden, Melkeimer, Schneeketten. Ein
verrosteter Traktor auf platten Reifen. Das Wohnhaus stand nicht mehr; es war
auf seinem Fundament zusammengebrochen, und die Wände lagen bizarr
übereinandergestapelt, als wäre das Haus zusammengeschoben worden. Sie teilten
die Konserven auf, die sie gefunden hatten, setzten sich auf den Boden und aßen
den Inhalt kalt. Durch die Löcher im Dach konnten sie die Sterne sehen und, als
es Nacht wurde, auch den Mond, umringt von vorbeitreibenden Wolken. Peter
übernahm die erste Wache mit Michael. Als Hollis und Sara sie ablösten, waren
die Sterne verschwunden, und der Mond war nur noch ein fahler Fleck am wolkenverhangenen
Himmel. Peter schlief traumlos, und am Morgen sah er, dass es in der Nacht
geschneit hatte.
Im Laufe des Vormittags wurde die Luft wärmer,
und der Schnee war geschmolzen. Die nächste Stadt auf der Karte hieß
Placerville. Acht Tage war es her, dass sie den Kadaver der Katze in dem Baum
gesehen hatten. Das Gefühl, verfolgt zu werden, war in den langen Tagen der
Wanderung und den stillen, sternhellen Nächten verflogen. Die Farm war eine
ferne Erinnerung, und der Hafen mit allem, was dort passiert war, schien Jahre
hinter ihnen zu liegen.
Sie wanderten jetzt an einem Fluss entlang.
Peter vermutete, es sei der Dolores oder der San Miguel. Die Straße war längst
nicht mehr da - überwuchert vom Gras, versunken unter dem Sand der Zeit. In
zwei Dreierkolonnen marschierten sie schweigend voran. Was suchten sie, und was
würden sie finden? Ihre Reise war zum Selbstzweck geworden: Sie mussten
weitergehen, immer weiter. Irgendwann damit aufzuhören, ans Ende zu kommen, war
ein Gedanke, der Peters Vorstellungsvermögen überstieg. Amy ging an seiner
Seite, leicht vorgebeugt unter der Last ihres Rucksacks. Ihr Schlafsack und die
Winterjacke waren unten am Traggestell festgeschnallt. Sie trug wie alle andern
die Kleidung, die sie bei Outdoor World abgestaubt hatten: Hosen, die mit einem
Gürtel um ihre Taille gezurrt waren, und ein weites, rot-weiß kariertes Hemd,
dessen Manschetten nicht zugeknöpft waren und um ihre Handgelenke flatterten.
Ihre Füße steckten in ledernen Sneakers. Ihr Kopf war nicht bedeckt, und auch
die Brille hatte sie längst abgelegt. Sie blickte entschlossen nach vorn und
blinzelte im hellen Licht. In den Tagen, seit sie die Farm verlassen hatten,
war eine Veränderung vor sich gegangen, unterschwellig, aber spürbar. Genau wie
der Fluss war sie es jetzt, die sie führte. Die andern hatten nur noch die
Aufgabe, ihr zu folgen. Mit jedem Tag wurde dieses Gefühl stärker. Peter dachte
- wie so oft - an die Botschaft, die Michael ihm gezeigt hatte, in jener längst
vergangenen Nacht im Lichthaus. Ihre Worte klangen im Takt seiner Schritte,
und jeder Schritt trug ihn weiter in eine Welt, die er nicht kannte, in das
verborgene Herz der Vergangenheit, an den Ort, von dem Amy kam.
Wenn ihr sie gefunden habt, bringt sie her.
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