Cronin, Justin
dass er sie ansah, und legte fragend
den Kopf zur Seite. »Was ist?«
Verlegen schüttelte er den Kopf. »Nichts.«
»Du hast mich angestarrt.«
Sie schaute lang zu Hollis hinüber, und ihre
Mundwinkel hoben sich zu einem kurzen Lächeln. Es war nur ein Moment, aber
Peter spürte deutlich das unsichtbare Band zwischen den beiden. Natürlich. Wie
hatte er so blind sein können?
»Es war nichts weiter«, brachte er hervor. »Nur
... du hast glücklich ausgesehen, wie du so dasitzt. Hat mich überrascht, das
ist alles.«
Alicia kam aus dem Gebüsch. Sie lehnte ihr
Gewehr an einen Baum, nahm eine Konservendose aus einem Rucksack und stach sie
mit dem Messer auf. Stirnrunzelnd betrachtete sie den Inhalt.
»Pfirsiche«, stöhnte sie. »Wieso kriege ich
immer Pfirsiche?« Sie setzte sich auf den Baumstamm, spießte die weichen gelben
Früchte auf und schob sie in den Mund.
»Was gibt's da unten?«, fragte Peter.
Der Saft tropfte ihr am Kinn herunter. Sie
deutete mit der Messerklinge in die Richtung, aus der sie gekommen war.
»Ungefähr einen halben Kilometer weiter östlich wird der Fluss schmaler und
biegt nach Süden ab. Berge auf beiden Seiten, dichte Bewachsung, eine Menge
exponierte Stellen.« Sie hatte die Pfirsiche aufgegessen, trank den Saft aus
der Dose und warf sie beiseite. Dann wischte sie sich die Hände an ihren Hosen
ab. »Am helllichten Tag, wie jetzt, ist es wahrscheinlich okay. Aber wir
sollten nicht allzu lange hier herumtrödeln.«
Michael saß ein paar Schritte weiter an den Baumstamm
gelehnt auf dem feuchten Boden. Die lange Wanderung hatte ihn schlanker und härter
gemacht, und er hatte einen dünnen hellblonden Bart bekommen. Ein Schrotgewehr
lag quer über seinem Schoß, und sein Finger war nah am Abzug.
»Keine Sichtung seit - wann? Seit sieben Tagen?«
Er sprach mit geschlossenen Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. Er trug
nur ein T-Shirt und hatte sich die Jacke um den Bauch gebunden.
»Seit acht«, korrigierte Alicia. »Aber das heißt
nicht, dass wir nachlässig werden dürfen.«
»Ich sag's ja nur.« Er öffnete die Augen und sah
Alicia achselzuckend an. »Diese Katze kann an allem Möglichen krepiert sein.
Vielleicht an Altersschwäche.«
Sie lachte. »Hört sich gut an.«
Amy stand allein am Rand des Lagerplatzes. So
spazierte sie immer davon. Eine Zeitlang hatte Peter sich wegen dieser
Angewohnheit Sorgen gemacht, aber sie ging nie sehr weit weg, und inzwischen
hatten sich alle daran gewöhnt.
Er stand auf und ging zu ihr. »Amy, du solltest
etwas essen. Wir gehen bald weiter.«
Das Mädchen antwortete nicht gleich. Sie schaute
zu den Bergen hinüber, die sich jenseits des Flusses und des flachen Graslands
dahinter in der Sonne erhoben.
»Ich erinnere mich an den Schnee«, sagte sie.
»Wie ich darin gelegen habe. Wie kalt er war.« Sie sah ihn blinzelnd an. »Wir
sind bald da, nicht wahr?«
Peter nickte. »In ein paar Tagen, nehme ich an.«
»Telluride«, sagte Amy.
»Ja. Telluride.«
Sie wandte sich wieder ab. Peter sah, dass sie
fröstelte, obwohl es warm war. »Wird es wieder schneien?«, fragte sie. »Hollis
glaubt es.«
Amy nickte zufrieden. Ihr Gesicht leuchtete
warm. Es war eine glückliche Erinnerung. »Ich würde mich gern wieder
hineinlegen und Schneeengel machen.«
So sprach sie oft - in nebulösen Rätseln. Aber
diesmal klang es anders. Es war, als steige die Vergangenheit vor ihren Augen
herauf, wie ein Reh, das zaghaft aus dem Dickicht hervorkommt. Die kleinste Bewegung
würde es verscheuchen.
»Was sind Schneeengel?«
»Man bewegt Arme und Beine im Schnee auf und
ab«, erklärte sie. »Wie die im Himmel. Wie der Geist, Jacob Marley.«
Peter spürte, dass die andern jetzt zuhörten.
Der Wind wehte ihm eine schwarze Haarsträhne über die Augen. Als er sie so
betrachtete, fühlte er sich durch die Monate zurückversetzt in die Nacht im
Krankenrevier, als Amy seine Wunde gewaschen hatte. Gern hätte er sie gefragt:
Woher wusstest du es, Amy? Woher wusstest du, dass meine Mutter mich vermisst
und wie sehr sie mir fehlt? Denn ihr habe ich es nie gesagt, Amy. Sie lag im
Sterben, und ich habe ihr nicht gesagt, wie sehr sie mir fehlen würde, wenn sie
nicht mehr da wäre.
»Wer ist Jacob Marley?«, fragte er.
Sie runzelte die Stirn und war plötzlich
traurig. »Er trug die Ketten, die er im Leben geschmiedet hatte«, sagte sie und
schüttelte den Kopf. »Es war eine so traurige Geschichte.«
Sie folgten dem Fluss bis in den Nachmittag
hinein.
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