Cronin, Justin
auch nicht weiter. Die Frau, eine untersetzte
Weiße mit einem kurzen Männerhaarschnitt, sprach in der Küche mit dem Kind,
während der andere Officer, ein gut aussehender Schwarzer mit einem glatten,
schmalen Gesicht, sich von Lacey die Mutter beschreiben ließ. Wirkte sie
nervös?, fragte er sie. War sie betrunken, auf Drogen? Wie war sie gekleidet?
Hatte Lacey den Wagen gesehen? Es ging immer so weiter, aber Lacey merkte, dass
er die Fragen nur stellte, weil er es musste. Er glaubte auch nicht, dass die
Mutter des Mädchens wieder auftauchen würde. Ihre Antworten notierte er mit
einem winzigen Bleistift auf einem Block, der sofort wieder in der Brusttasche
seiner Uniform verschwand, als er fertig war. Aus der Küche kam ein
Lichtblitz: Die Polizistin hatte Amy fotografiert.
»Möchten Sie die Behörden benachrichtigen, oder
sollen wir das tun?«, fragte der Polizist. »Vielleicht wäre es ja auch
vernünftig, noch abzuwarten. Hat ja keinen Sinn, die Kleine sofort ins Heim zu
geben, vor allem am Wochenende, wenn Sie nichts dagegen haben, sie hierzubehalten.
Wir können eine Beschreibung der Frau herausgeben. Vielleicht bringt uns das
weiter. Wir werden das Mädchen auch in die Datenbank vermisster Kinder
eingeben. Und es könnte auch sein, dass die Mutter zurückkommt, aber wenn sie
es tut, sollten Sie das Kind nicht herausgeben und uns anrufen.«
Es war kurz nach Mittag. Die übrigen Schwestern
würden um eins von der Volksküche zurückkommen, wo sie den Vormittag über
Regale bestückt und kistenweise Konserven und Haferflocken, Spaghettisauce und
Windeln an Bedürftige verteilt hatten. Das taten sie jeden Dienstag und
Freitag. Lacey hatte allerdings schon die ganze Woche Schnupfen - auch nach
drei Jahren in Memphis hatte sie sich an die feuchtkalten Winter nicht gewöhnen
können -, und Schwester Arnette hatte gemeint, sie solle lieber zu Hause
bleiben. Es habe ja keinen Sinn, wenn sie noch kränker werde. Eine solche
Entscheidung war typisch für Schwester Arnette. Dabei hatte Lacey sich heute
Morgen beim Aufwachen völlig wohlgefühlt.
Sie sah den Polizisten an und sagte kurz
entschlossen: »Ja, mach ich.«
Und so begab es sich, dass Lacey es unterließ,
den Schwestern, als sie nach Hause kamen, die Wahrheit über das Kind zu sagen. Das
ist Amy, sagte sie ihnen, als sie im Hausflur ihre Mäntel
und Schals ablegten. Ihre Mutter ist eine
Freundin von mir. Sie wurde zu einer kranken Verwandten gerufen, und Amy wird
das Wochenende bei uns bleiben. Es war überraschend, wie
leicht die Lüge ihr über die Lippen ging. Sie war nicht geübt im Täuschen, und
trotzdem hatten sich die Worte schnell in ihrem Kopf zusammengefügt und mühelos
den Weg zu ihrer Zunge gefunden. Während sie sprach, warf sie Amy einen kurzen
Blick zu; vielleicht würde das Kind sie verraten. Aber sie sah ein Flackern
des Einverständnisses in Amys Augen. Lacey begriff, dass die Kleine es gewohnt
war, Geheimnisse zu bewahren.
»Schwester«, erklärte Schwester Arnette
missbilligend, »es freut mich, zu sehen, dass du diesem Kind und seiner Mutter
unsere Hilfe anbietest, aber wahr ist auch, dass dies etwas ist, wonach du mich
vorher hättest fragen müssen.«
»Es tut mir sehr leid«, sagte Lacey. »Es war ein
Notfall. Und es ist ja nur bis Montag.«
Schwester Arnette musterte Lacey und schaute
dann zu Amy hinunter, die vor Lacey stand und den Rücken an ihren Faltenrock
schmiegte. Dabei zog Schwester Arnette die Handschuhe aus, Finger für Finger.
Die kalte Luft von draußen wirbelte noch immer in dem kleinen Hausflur.
»Dies ist ein Konvent, kein Waisenhaus. Es ist
kein Ort für Kinder.«
»Das weiß ich, Schwester. Und es tut mir sehr
leid. Es ging einfach nicht anders.«
Wieder verstrich ein Augenblick. Lieber
Gott, dachte Lacey, hilf
mir, diese Frau mehr zu lieben, als ich es tue - Schwester Arnette, die herrisch
ist und so viel von sich hält, aber die deine Dienerin ist wie ich.
»Also gut«, sagte Schwester Arnette schließlich
und seufzte gereizt. »Bis Montag. Sie kann das freie Zimmer haben.«
In diesem Augenblick fragte Schwester Lacey
sich, warum sie gelogen hatte, und warum das Lügen ihr so leichtgefallen war -
als wäre es gar keine Lüge im weiteren Sinne von Wahrheit und Unwahrheit gewesen.
Außerdem war ihre Geschichte voller Löcher. Was würde passieren, wenn die
Polizei wiederkäme oder anriefe, und wenn Schwester Arnette herausfände, was
sie getan hatte? Und was würde am Montag passieren, wenn sie die
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