Cronin, Justin
Behörden
anrufen müsste? Aber sie hatte keine Angst bei diesen Fragen. Das Mädchen war
ein Geheimnis, das Gott ihnen gesandt hatte. Und nicht so sehr ihnen, sondern speziell ihr -
Lacey. Ihre Aufgabe war es, dieses Geheimnis zu ergründen, und mit der Lüge
hatte sie sich die nötige Zeit verschafft, ebendies zu tun. Womöglich war es ja
gar keine Lüge gewesen, sagte sie sich, denn wer wusste schon, ob die Mutter
nicht tatsächlich zu einer kranken Verwandten gefahren war? Vielleicht war das
Lügen deshalb so einfach gewesen: Der Heilige Geist hatte durch sie gesprochen,
hatte sie mit der Flamme einer anderen, tieferen Wahrheit erhellt, und was er
gesagt hatte, war dies: Das Kind war in Not und brauchte Laceys Hilfe.
Die anderen Schwestern freuten sich. Sie bekamen
nie oder nur sehr selten Besuch, und dann meist von Priestern oder von
Schwestern wie ihnen. Aber ein kleines Mädchen, das war etwas Neues. Kaum war
Schwester Arnette die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufgegangen, redeten alle durcheinander.
Woher kannte Schwester Lacey die Mutter des Mädchens? Wie alt war Amy? Was tat
sie am liebsten? Was war ihr Lieblingsessen? Ihre Lieblingssendung? Sie waren
so sehr aus dem Häuschen, dass sie kaum bemerkten, wie wenig Amy sagte. Ja,
tatsächlich sagte das Mädchen fast überhaupt nichts. Lacey redete die ganze
Zeit. Also, fing sie an: Abends aß Amy am liebsten Hamburger und Hotdogs - das
waren ihre Leibgerichte - und zwar mit Pommes, und danach Schokoladeneis. Sie
malte und bastelte gern und mochte Filme, in denen Prinzessinnen vorkamen - und
Hasen, wenn so etwas zu bekommen war. Kleider würde sie auch brauchen. In der
Eile hatte die Mutter den Koffer der Kleinen vergessen, so durcheinander war
sie wegen ihrer eigenen Barmherzigkeitsmission gewesen (die Großmutter der
Kleinen - in Arkansas, in der Nähe von Little Rock - war Diabetikerin und hatte
Herzbeschwerden). Doch als sie deshalb noch einmal nach Hause fahren wollte,
hatte Lacey es abgewehrt, weil sie auch so zurechtkommen würde. Die Lügen flossen
so geschmeidig aus ihrem Mund und trafen auf Ohren, die sie bereitwillig
aufnahmen: Eine Stunde später schien jede der Schwestern eine etwas andere
Version der Geschichte zu haben. Schwester Louisa und Schwester Claire fuhren
mit dem Van zum Piggly Wiggly, um Hamburger, Hotdogs und Pommes zu holen, und
dann weiter zu Wal-Mart wegen Kleidern, DVDs und Spielsachen. Schwester Tracy
machte sich daran, das Abendessen zu planen, und sie verkündete, sie hätten
nicht nur mit den versprochenen Hamburgern, Hotdogs und dem Schokoladeneis zu
rechnen, sondern zum Eis auch noch mit einer dreischichtigen Schokoladentorte.
(Sie freuten sich immer auf den Freitagabend, wenn Schwester Tracy mit dem
Kochen an der Reihe war. Ihre Eltern hatten ein Restaurant in Chicago, und
bevor sie zu den Schwestern gekommen war, hatte sie eine Ausbildung in der
Kochakademie »Le Cordon Bleu« absolviert.) Sogar Schwester Arnette schien sich
von der Partystimmung anstecken zu lassen; sie saß mit Amy und den anderen
Schwestern im Aufenthaltsraum vor dem Fernseher, und sie schauten sich Die
Brautprinzessin an, während das Abendessen vorbereitet
wurde.
Die ganze Zeit über richtete Schwester Lacey
ihre Gedanken auf Gott. Als der Film, den alle wunderbar fanden, zu Ende war,
gingen Schwester Louise und Schwester Claire mit Amy in die Küche, um ihr die
Spielsachen zu zeigen, die sie im Wal-Mart gekauft hatten: Malbücher, Buntstifte,
Klebstoff und Basteibögen und eine Barbie-Tierhandlung, bei der Schwester
Louise eine Viertelstunde gebraucht hatte, um all die kleinen Teile - Kämme,
Hundebürsten, Futternäpfe und alles andere - aus dem Gefängnis der
Plastikverpackung zu befreien. Lacey ging die Treppe hinauf. In der Stille
ihres Zimmers betrachtete sie das Geheimnis um Amy im Gebet, und sie lauschte
nach der Stimme, die sie durchwehen und mit der Kenntnis Seines Willens
erfüllen würde. Aber als sie den Geist zu Gott erhob, verspürte sie nichts als
eine Frage ohne klare Antwort. Auch auf diese Weise, das wusste sie, konnte
Gott zu einem Menschen sprechen. Die meiste Zeit blieb Sein Wille unfasslich,
und obwohl das frustrierend war, ließ sich daran nichts ändern. Die meisten
Schwestern beteten in der kleinen Kapelle hinter der Küche, und Lacey tat es
auch, aber ihre wirklich ernsthaften, forschenden Gebete waren Augenblicken wie
diesem vorbehalten, wenn sie allein in ihrem Zimmer war, und dann kniete sie
nicht einmal, sondern saß an
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