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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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ihrem Schreibtisch oder auf der Kante ihres
schmalen Bettes. Dann legte sie die Hände in den Schoß, schloss die Augen und
schickte ihren Geist so weit hinaus, wie sie konnte. Schon als Kind hatte sie
sich dabei einen Drachen an einer Schnur vorgestellt, der höher und höher
stieg, während sie die Schnur abwickelte und abwartete, was passieren würde.
Jetzt saß sie auf ihrem Bett und ließ den Drachen so hoch es ging steigen, und
das imaginäre Knäuel der Schnur in ihren Händen wurde immer kleiner und
leichter. Der Drachen selbst war nur noch ein winziger Farbtupfer hoch über
ihrem Kopf, und sie konnte deutlich die Macht des Windes spüren, der an ihm
zerrte, eine Urgewalt gegen etwas sehr Kleines.
    Nach dem Abendessen kehrten die Schwestern ins
Wohnzimmer zurück, um sich im Fernsehen eine Krankenhausserie anzusehen, die
sie schon das ganze Jahr über verfolgt hatten, und Schwester Lacey ging mit Amy
nach oben, um sie ins Bett zu bringen. Es war acht Uhr; normalerweise waren
alle Schwestern um neun im Bett und standen morgens um fünf zur Frühandacht
wieder auf. Damit käme ein Mädchen in Amys Alter bestimmt auch zurecht. Sie
badete Amy, wusch ihr die Haare mit Himbeershampoo und massierte einen Klecks
Conditioner in die verfilzten Strähnen. Dann kämmte sie sie, bis sie glatt und
glänzend waren, und das tiefe Schwarz wurde mit jedem Strich des Kamms
dunkler. Schließlich trug sie die alten Sachen hinunter in die Waschküche. Als
sie wieder heraufkam, hatte Amy den Pyjama angezogen, den Schwester Claire am
Nachmittag bei Wal-Mart gekauft hatte. Er war rosa, hatte ein Muster aus
Sternen und Monden mit lächelnden Gesichtern und war aus einem Stoff, der
raschelte und glänzte wie Seide. Als Lacey ins Zimmer kam, sah sie, dass Amy
ratlos die Ärmel und Beine betrachtete: Sie waren zu lang und baumelten wie bei
einem Clownskostüm über Hände und Füße. Lacey krempelte sie hoch. Amy putzte
sich die Zähne, legte ihre Zahnbürste wieder in das Etui, wandte sich vom
Spiegel ab und sah sie an.
    »Soll ich hier schlafen?«
    So viele Stunden waren vergangen, seit sie die
Stimme des Mädchens gehört hatte, dass Lacey nicht sicher war, ob sie die Frage
richtig verstanden hatte. Sie schaute Amy verdutzt an. Die Frage, so
merkwürdig sie war, erschien dem Mädchen offenbar naheliegend.
    »Warum solltest du im Badezimmer schlafen, Amy?«
    Amy schaute zu Boden. »Mama sagt, ich muss still
sein.«
    Lacey wusste nicht, was sie damit anfangen
sollte. »Nein, natürlich nicht. Du schläfst in deinem Zimmer. Gleich neben
meinem. Ich zeige es dir.«
    Das Zimmer war sauber und einfach. Die Wände
waren kahl, und die Einrichtung bestand nur aus einem Bett, einer Kommode und
einem kleinen Schreibtisch. Nicht einmal ein Teppich lag auf dem Boden, um ihn
zu wärmen, und Lacey wünschte, sie hätte irgendetwas, um es dem Kind ein
bisschen hübscher zu machen. Morgen würde sie Schwester Arnette fragen, ob sie
einen kleinen Bettvorleger kaufen dürfe, damit Amy morgens nicht mit nackten
Füßen über die kalten Dielen laufen musste. Sie deckte Amy zu und setzte sich
auf die Bettkante. Durch den Boden hörte sie die leisen Geräusche des
Fernsehers im Erdgeschoss, und in den Wänden tickten Rohrleitungen, die sich
ausdehnten. Draußen strich der Wind durch das erste Märzlaub der Eichen und
Ahornbäume, und das leise Summen des Abendverkehrs auf der Poplar Avenue wehte
herüber. Der Zoo war nur zwei Blocks weiter, am anderen Ende des Parks. An
Sommerabenden, wenn die Fenster offen standen, hörte sie manchmal das Heulen
und Kreischen der Stummelaffen in ihren Käfigen. Es war seltsam und wunderbar,
ihre Stimmen so weit weg von daheim zu hören, aber als sie dann in den Zoo
gegangen war, hatte sie gesehen, dass es ein furchtbarer Ort war, fast ein
Gefängnis: Die Pferche waren klein, die Großkatzen wurden in öden Käfigen
hinter Plexiglasscheiben gehalten, und die Elefanten und Giraffen trugen
Ketten an den Beinen. Alle Tiere sahen deprimiert aus. Die meisten hatten kaum
Lust, sich zu bewegen, und die Leute, die dort hinkamen, um sie zu sehen,
waren laut und rüpelhaft und ließen ihre Kinder Popcorn durch die Gitter
werfen, damit die Tiere Notiz von ihnen nahmen. Lacey fand es unerträglich; sie
war den Tränen nahe gewesen und hatte schleunigst die Flucht ergriffen. Es
brach ihr das Herz, zu sehen, wie Gottes Geschöpfe völlig sinnlos so grausam
und mit so kaltherziger Gleichgültigkeit behandelt wurden.
    Aber als sie jetzt

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