Cronin, Justin
Aber
so sehr er es auch versuchte, er brachte es nicht über sich. Er hatte sein
Leben schon zu lange, um es durch reine Willenskraft aufzugeben. Mit einem
weichen Stoß landeten sie auf dem Grund. Mrs Wood hielt ihn immer noch fest,
und er fühlte, wie ihre Schultern zuckten, als sie das erste Mal einatmete.
Dann tat sie es noch einmal, und ein drittes Mal, und die letzten Luftblasen
aus ihrer Lunge schwebten an seinem Ohr vorbei wie ein geflüstertes Geheimnis - Gott segne Sie, Mr Carter -, und
dann ließ sie ihn los.
Er wusste nicht mehr, wie er aus dem Pool
gekommen war oder was er zu dem kleinen Mädchen gesagt hatte. Sie weinte laut,
und dann hörte sie auf. Mrs Wood war tot, ihre Seele war längst fort, lediglich
ihr leerer Körper trieb langsam an die Oberfläche und fand seinen Platz zwischen
dem schwimmenden Laub, das er hatte abschöpfen wollen. Das alles hatte etwas
Friedliches, den schrecklichen Frieden eines gebrochenen Herzens - wie etwas,
das zu lange gedauert und schließlich doch zum Ende gefunden hatte. Und es war,
als habe er angefangen, wieder zu verschwinden. Stunden oder Minuten mochten
vergangen sein, als die Nachbarin und dann die Polizei kam, aber inzwischen
wusste er, dass er keiner Menschenseele erzählen würde, was passiert war, was
er gesehen und gehört hatte. Es war ein Geheimnis, das sie ihm anvertraut
hatte, das letzte Geheimnis: wer sie war. Und er musste es bewahren.
Carter entschied, dass es in Ordnung war, was
jetzt mit ihm passieren würde. Vielleicht hatte Wolgast gelogen, vielleicht
auch nicht, aber Carters Lebenswerk war zu Ende, das wusste er jetzt. Niemand
würde ihn noch einmal nach Mrs Wood fragen. Sie war jetzt nur noch etwas in seinem
Kopf, als sei ein Teil von ihr mit diesem Flüstern in ihn übergegangen. Davon
brauchte er niemandem etwas zu erzählen.
Ein Zischen durchbrach die Stille um ihn herum;
es klang, als fahre die Luft aus einem Autoreifen, und ein einzelnes grünes
Licht erschien an der gegenüberliegenden Wand, wo vorher ein rotes gewesen war.
Eine Tür schwang auf, tauchte den Raum in fahles bläuliches Licht. Carter sah
jetzt, dass er auf einer fahrbaren Trage lag und ein Krankenhaushemd trug. Die
Kanüle mit dem Schlauch steckte immer noch in seiner Hand, und als er einen
Blick auf die Nadel warf, die unter dem Pflaster seine Haut verzerrte, tat es
plötzlich wieder scheußlich weh. Der Raum war größer, als er vermutet hatte.
Überall waren weiße Oberflächen außer dort, wo die Tür sich geöffnet hatte,
und den Apparaten an der Wand gegenüber, die anders aussahen als alles, was er
kannte.
Eine Gestalt stand in der Tür.
Er schloss die Augen und ließ sich wieder
zurücksinken. In Ordnung, dachte er. Alles in Ordnung. Ich bin bereit. Sollen
sie kommen.
»Wir haben ein Problem.«
Es war kurz nach zehn. Sykes stand in Richards'
Bürotür.
»Ich weiß«, sagte Richards. »Ich bin schon
dran.«
Das Problem war das Mädchen ohne Namen. Sie
hatte jetzt einen Namen. Richards hatte die Nachricht kurz nach neun über den
allgemeinen Informationsdienst der Polizeibehörden erhalten. Die Mutter des
Mädchens stand im Verdacht, jemanden erschossen zu haben, irgendeine Sache vor
dem Haus einer Studentenverbindung; der Junge, den sie erschossen hatte, war
der Sohn eines Bundesrichters. Die Waffe, die sie am Tatort zurückgelassen
hatte, hatte die örtliche Polizei zu einem Motel in der Nähe von Graceland
geführt, wo der Manager - dessen Vorstrafenregister zwei Seiten füllte - das
Mädchen anhand eines Fotos identifiziert hatte, das die Cops in dem Konvent von
ihr aufgenommen hatten, in dem die Mutter sie zurückgelassen hatte. Die Nonnen
hatten ihre Aussage gemacht und noch etwas anderes berichtet, womit Richards
nichts anfangen konnte - es ging um irgendeinen Zwischenfall im Zoo von Memphis
-, bevor eine von ihnen Doyle und Wolgast auf einem Überwachungsvideo
erkannte, das in der Nacht zuvor an der 1-55 am Checkpoint südlich von Memphis
aufgenommen worden war. Das Lokalfernsehen hatte die Story rechtzeitig zu den
Abendnachrichten erwischt, als die Fahndung nach dem entführten Kind
herausgegangen war.
Im Handumdrehen suchte die ganze Welt nach zwei
FBI-Agenten und einem kleinen Mädchen namens Amy Bellafonte.
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Sykes.
Richards rief die Satellitenübertragung auf
seinen Bildschirm und steuerte den Viewer auf die Staaten zwischen Tennessee
und Colorado. Der Sender steckte in Wolgasts BlackBerry. Richards
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