Cruzifixus
Buchstabenkolonnen zu entziffern:
„… sind allhier zur huldreichen Jungfrau gekhommen, um Linderung ihrer Leiden zu erbitten und Errettung aus Elend und Entbehrung zu erflehen. So hat sich der tugendhafte Jüngling Jodok Albertshofer der Jungfrau Maria verlobt und hat nachdem er sich an dem wunderthätigen Nass gelabt, sein Augenlicht zurück erlangt.“
Vinzenz gefiel sich in dem Part des ungläubigen Thomas:
„Blinde gehen und Lahme sehen!“
Darauf deklamierte er in der Diktion des Salonspartakisten:
„Opium fürs Bauernvolk! Eine Maß für den Messias!“
Die Polemik des unverbesserlichen Gotteslästerers würde jeder Betschwester die Schamröte ins Gesicht treiben. Simon war fasziniert von dem was er vor sich sah. Jahr für Jahr hatten die Patres mit nie erlahmendem Fleiß Hunderte von Gebetserhörungen protokolliert und die unglaublichsten Wunder katalogisiert: Fiebernde und Delirierende, Lahme und Blinde waren von ihrem Gebrechen geheilt worden. Das einzige was fehlte, war eine Auferweckung von den Toten. Simon suchte nach verdächtigen Spuren, schnüffelte wie ein Spürhund des Herrn zwischen den Zeilen:
„An den drei Goldenen Sambstagen nach Michaeli sind fünf Priester und Kapläne heraufkhommen, um ab fünf Uhr in der Früh das heilige Amt zu zelebrieren und den Wallfahrern die Beichte abzunehmen. Denn so heißt es im Volksmund: wie das Gold unter den Metallen, so schimmern die drei Samstage im strahlenden Licht der göttlichen Gnaden.“
Solch ein Licht, dachte Simon mit einem Anflug von Verärgerung, könnte er jetzt gut gebrauchen.
Vinzenz schlich wie ein läufiger Kater um ihn herum:
„Und weiter?“
Entnervt entfuhr es ihm:
„Bin ich Dechiffrier-Spezialist beim Mossad?“
Die Klaue mancher Brüder war völlig unleserlich, der Wortschatz antiquiert, Satzbau und Syntax mehr als gewagt:
„Sind große Mirakel im Lande geschehen; der Sallersee hat blutfarbige Streifen gehabt, sind nachmals zu einer Kugel worden, und gen Boden gefallen; wenn man’s zum Feuer gesetzt hat, ist’s wie schwarzes, gestocktes Blut geworden. Noch kehrt sich niemand daran, gleichwie die Juden zu Jerusalem.“
Simon beugte sich über die Seiten. Er brannte darauf den kryptischen Schriften ihr Geheimnis zu entreißen:
„Sie wollten die Zeichen nicht sehen, so sind Sie in ihrer Feinde Hand überantwortet und mit eisernen Ruten gegeißelt worden.“
Und weiter ging es im apokalyptisch, prophetischen Text:
„Christus heißt darum Jesus, das ist der Heilmacher, weil er die Sünder zur Umkehr ruft, den Elenden aufhilft und allzeit vor Gott ihr Verteidiger, Mittler und Fürsprecher bleibt, wie er denn auch um ihrer Sünde Willen sein Blut vergossen.“
Das Orakel von Hochharting ließ kein Klischee aus:
„Wie soll es aber nun zugehen, wo die Treue gen Himmel gefahren und der Glaube auf Stelzen geht?“
Der hellseherisch ambitionierte Mönch bediente sich einer fadenscheinigen Metapher:
„Der Fisch stinkt vom Haupt. Ein nissig Haar macht einen lausigen Kopf!“
Die kapuzinische Kassandra ließ kein gutes Haar an den guten alten, sittenlosen Zeiten:
„Sunt digni, sunt justi? Sind sie würdig, Sind sie gerecht? Ich sage: Nein! Unwürdige lassen sich weihen, schmieren und mit Öl salben!“
Simon lag ein ironischer Kommentar auf der Zunge, da ließ ihn ein unartikulierter Ausruf zusammenfahren:
„Ich sehe den Titel schon vor mir! Die Prophezeiungen des Pater Nostradamus, des Endzeit-Eremiten von Hochharting! Das wird ein Bestseller!“
Simon suchte nach Zeichen von Irrsinn im Blick seines Sozius. Die Pupillen waren wie nach der Einnahme von Tollkirschensaft geweitet. Hatte er eine Prise Koks in den Messwein gerührt? Er stammelte wie ein Medium bei einer Seance:
„Ich sehe den Geist Goethes über uns schweben!“
Simon erwiderte
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