Cruzifixus
schließlich plausibel, dass ein Pfarrer einen guten Draht nach oben oder auch nach unten hat.“
Vinzenz drehte das leere Glas zwischen seinen Fingern:
„So habe ich die Sache noch nicht betrachtet. Vielleicht hat Dirrigl diese Teufelei ja nur ersonnen, um Sie hinterher Onkel Ägid in die Schuhe schieben zu können? Er hätte nur so tun müssen, als ob er im Auftrag seines Meisters gehandelt habe! Und er selbst wäre aus dem Schneider. So läuft es doch vor Gericht.“
Ein zynisches Lächeln vertiefte die Grübchen seiner bleichen Wangen.
Vinzenz presste den Hörer ganz nah ans Ohr:
„Was sagst? Wer ist tot?“
Um Simon mithören zu lassen, drückte Vinzenz auf die Lautsprechertaste. Eine nörgelige Stimme drang aus dem Hörer, um mit quälender Penetranz an den Gehörnerven zu sägen:
„…letzthin habe ich Sie noch beim Metzger getroffen. Sie hat ja schon länger Probleme mit den Bronchien und den Arterien!“
Vinzenz echote wie der Fischer vom Königssee:
„Der Aorta und den Arterien!“
Vinzenz war wetterwendisch, launisch und unberechenbar wie ein Föhnsturm im Frühling. Umso mehr verwunderte es ihn, dass er seine Tante stets mit ausgesuchter Höflichkeit behandelte:
„Aufm Heimweg ist ihr schwindlig geworden und Sie hat plötzlich keine Luft mehr gekriegt.“
Simon warf Vinzenz einen bedeutsamen Blick zu: Wieso musste er sich das Lamento dieser alten Tratschtante anhören?
„Im September wäre Sie 89 geworden. Und bis zuletzt hat ihr kaum etwas gefehlt. Sie hat zwar nicht mehr sonderlich gut gehört aber gesehen hat Sie noch alles!“
Wie ein getreuer Paladin sekundierte Vinzenz:
„Alles!“
Ohne Punkt und Komma ging das Jammern weiter:
„Rad gefahren ist Sie noch wie der Teufel!“
„Wie der Teufel!“
Das Mitteilungsbedürfnis der Alten schien gewaltig:
„Sie wollte sich von niemanden die Beichte abnehmen lasen. Weder von dem neuen Pfarrer, noch von seinem muffligen Kooperator! Nur vom Onkel Egid - der war halt ihr Ein und Alles. Aber er war ja nicht da, um ihr die Absolution zu erteilen.“
Die Suada nahm kein Ende:
„Brauchst nicht glauben, dass sich jemand um das Seelenheil der Rainriederin gekümmert hätte! Den sauberen Herrn da oben kommt es gerade Recht, dass der Onkel fort und Sie fein raus sind.“
Vinzenz ließ keinen Zweifel, dass er gleichfalls kein Freund von besagten „Oberen“ war:
„Wenn denen einer nicht in den Kram passt, dann geht’s Ruckzuck.“
Die Alte geriet nun vollends in Rage:
„Die Großkopferten sind allesamt Verbrecher! Parasiten und Schmarotzer, die uns bei lebendigem Leib das Mark aus den Knochen zuzeln. Und wenn sich jemand gegen diese Blutsauger wehrt, dann geht’s ihm wie damals dem Jesus in Jerusalem.“
Simon wartete darauf, dass die Alte auf die gute alte Zeit, die milden Gaben aus dem Füllhorn des Führers zu sprechen kam. Simon wartete indes vergebens. Entweder hatte Vinzenz die Lautsprechtaste deaktiviert oder es war alles gesagt, was es zu sagen gab! Vinzenz schien jedenfalls wild entschlossen seinem fußlahmen Gefährten Feuer unterm Hintern zu machen:
„Auf geht’s, auf nach Hochharting!“
Er klang wie Agamemnon, der seine Streiter die Wälle Trojas stürmen ließ.
Ein abgestandener, muffiger Geruch hing in der Luft. In den Kammern der Kartause war es so finster wie im hintersten Kellerabteil der Unterwelt. Der weiße Lichtkegel einer Taschenlampe tanzte über den fleckigen Estrich und vertrieb die Schwärze in die Ecken des Raums. Selbst in dem käsigen, kärglichen Licht waren die Zeichen allgegenwärtigen Verfalls nicht zu übersehen: der Stuck bröckelte, die Wandpaneele waren wurmstichig, die Dielenbretter nur noch ein Schatten ihrer selbst. Simon und Vinzenz gingen wie auf rohen Eiern, ängstlich darum bemüht nirgendwo anzuecken oder anzustoßen. Da traf das Licht
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