Cruzifixus
platze ihm der Kragen:
„Meinst du ich kann hexen? Schau dir das Konglomerat doch an! Das ist kein enzyklopädisches Nachschlagewerk samt Glossar und Stichwortverzeichnis mein Lieber! Da war ein Chefchaot am Werk, der den ganzen Kram, theologische Traktate, Florilegien, Heiligenlegenden und Predigtzyklen ohne irgendein erkennbares System gepackt und zum Buchbinder geschleppt hat.“
Simon blies die Backen auf, um seinen ungeduldigen Akolythen die Leviten zu lesen:
„Hier zum Beispiel haben wir einen Mirakelbericht: die Mär von irgendeiner Wunderheilung. Die sind querbeet im Buch verstreut! Und hier…“
Im Licht der Taschenlampe ringelten und kringelten sich die nur schwerlich als solche erkennbaren Schriftzeichen:
„Wie sagt der Lateiner: manu propria! Sprich unleserlich!“
Mit zusammengekniffenen Augen buchstabierte Simon:
„Fürderhin ging er daran in einem wünckhel des Kürchwaldts ein schlechtes hüttlein aufzurichten, damit er darin mit andacht alß ein armer Ainsidl sein Leben möge fristen! Und er nennet den Ort Quarantan, nach jenem Berge am Todten Meere, wo Jesum hat 40 Tag und Nächt zugebracht und ist dort vom Teuffel versuchet worden.“
Vinzenz kratzte sich missmutig an der Schläfe:
„Wusste gar nicht, dass Jesus unter Quarantäne stand!“
Simon wusste es indes besser:
„Nix da! Quarantäne kommt von Quarante, eh bien? Eine 40-tägige Hafensperre für Schiffe, die aus dem Orient kamen!“
Vinzenz grummelte, aber er schwieg. Simon konzentrierte sich aufs Neue:
„An dem verwunschnen Orte sprang ein Quell aus dem Fels: Das Wasser aber schmeckhete so salzig und bitter, dass weder Leut noch Getier davon trinckhen mochten. Also kniete der fromme Bruder nieder und erflehet inständig die Hülfe der heiligen Jungfrau, schüttet Knochensplitter des Heiligen Cyprianus, welche er von den Kapuzinerbrüdern zu Rom geschenkht bekhommen, in den Brunntrog und alsbald ward das Wasser rein und klar!“
Sein Adlatus folgerte messerscharf:
„San Pellegrino sei Dank!“
Simons Stirn umwölkte sich. Wo waren die Zeiten geblieben, da es auf Erden noch Heilige und Engel gab?
Maria hat geholfen! Das Wohlwollen der Gottesmutter ließ nebst dem mineralhaltigen Heilwässerchen auch die Einnahmen der an der Quelle sitzenden Mönche sprudeln. Die der strikten Observanz der Hieronymiten-Eremiten anhängenden „armen Brüder“ erwiesen sich dabei als erstaunlich geschäftstüchtig. Die Manager des Messias hatten minutiös Buch über ihre erfolgreichen Transaktionen geführt. Seitenweise glichen die Annalen dem Geschäftsbericht eines multinationalen Syndikats: Abrechnungsbögen, Schuldverschreibungen, Erträgnisaufstellungen: hier zwei Gulden, dort 7 Kreuzer, da drei Taler. Die nächste Eremitengeneration hatte die Produktpalette um Tinkturen und Elixiere, um Reliquien und Devotionalien erweitert, subtile Marketingmethoden entwickelt, um mit Sympathieträgern wie Jesus, Maria und Josef Absatz, Umsatz und Gewinn überproportional zu steigern. Um seinen „Co“ ins Bild zu setzen, zog er ein kurzes, knappes Resümee:
„Hier war richtig was los. Scharen von Wundergläubigen sind von weither zur Wunderquelle gepilgert, um von der gnadenreichen Gottesmutter Vergebung für ihre Sünden zu erlangen und sich mit Talismanen, Amuletten und Weihwasserfläschchen einzudecken.“
Vinzenz erwiderte trocken:
„Vielleicht sollten wir unser Glück als Einsiedler versuchen!“
Unbeirrt fuhr Simon fort:
„Vielleicht ist es ja nur eine merkwürdige Koinzidenz, aber ich bin da auf etwas gestoßen. Unser Freund Dominikus war nicht der Erste, der hier abgestürzt ist. Im Jahre 1742 ist eine achtköpfige Pilgergruppe aus dem Achgau beim Abstieg zur Felshöhle des Eremiten tödlich verunglückt. Es kam so weit, dass man von einem Fluch sprach: unachtsame Pilger brachen sich bei der Kletterpartie das Genick, Wallfahrer stürzten in den Tod. Eigenartig, was? Hat dein Onkel nie etwas von Hexerei und bösen Geistern
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