Cruzifixus
brave Bruder vom Berg, der sich in den Händen einer ruchlosen Satanistensekte, einer Loge Luzifers oder eines zionistischen Geheimbunds befand. Oder er war der eigentliche Mastermind einer geheimen Bruderschaft, der per Videobotschaft zum Kreuzzug wider die Ungläubigen und die Feinde seines Gottes aufrief. Simon spürte wie seine Ganglienstelzen umknickten, wie er den Boden der Tatsachen unter den Füßen verlor. Mit einem Schlag kehrte das Gefühl des Scheiterns, des schmählichen Versagens zurück. Jeder Versuch sich in die Gedankenwelt des Autors jenes satanischen Stücks hineinzuversetzen war zum scheitern verurteilt, ehe er nicht seine wahren Absichten und Hintergedanken kannte. Was war die Geschichte hinter der Geschichte, welches Psychogramm prägte die Protagonisten? Es musste einen plausiblen Grund dafür geben, dass der Regisseur solch symbolträchtige Schauplätze für die dramatischen Wendepunkte und Engführungen seines Stücks verwendete. Die brutale Inszenierung des Mords, die exhibitionistische Zurschaustellung des Toten sollte wohl ein Fanal setzen, um das jedem Verbrechen innewohnende triviale Moment zu kaschieren. Der Mörder arbeitete im Prinzip wie die großen Künstler der Leinwand, die ein Maximum an dramatischer Wirkung aus einer Szene herausholten, indem sie den Farben der Finsternis huldigten, um den Opfergang als Apotheose, als Mysterium des Martyriums zu verklären. Wer sich von den großen, Gewalt verherrlichenden Gesten blenden ließ, übersah scheinbar nebensächliche Details, die jedoch den Schlüssel zum Verständnis eines Verbrechens lieferten. Das Teil, das Detail stand fürs Ganze, wie der Modus des Mords für den Mörder selbst.
Die Bewohner der Einsiedelei waren nie versessen darauf, Geschichte zu schreiben, ihr Ziel war es ein heilsgemäßes Leben in der Nachfolge, in der Imitatio Christi zu führen. Und dennoch hatten die Brüder ihre Augen nicht vor den Geschehnissen „der Welt“ verschlossen, ja sie waren getreue Chronisten der kleinen und großen Katastrophen, der Freude und der Trauer, der Schuld und der Sühne gewesen. Unablässig hatten die Diener des Herrn ihre Schreibfeder in die aus Blut und Tränen gemischte Tinte getunkt, um vor der staunenden Nachwelt Zeugnis abzulegen für die Größe Gottes und die Tücke Satans. Als Simon die lateinischen Zeilen studierte, überkam ihn das sonderbare Gefühl, dass ein Fremder aus ihm sprach:
„Quod potest tali ratione probari. Ad hoc quod aliquis sit catholicus et fidelis sufficit fides implicita. Hoc per exemplum de Cornelio centurione patere videtur. Qui antequam de Christo fidem haberet explicitam fuit fidelis quia iustus et timens Deum et per consequens fidem habuit saltem implicitam.“
Vinzenz rückte näher heran, um einen Blick auf die unter der kleinsten Berührung wie Sandpapier knisternden Seiten zu erhaschen:
„Unsere guten Taten vermögen es nicht, uns vom Geist des Bösen zu befreien. Dazu bedarf es der verzeihenden Güte des Vaters und der Zuversicht in die Botschaft des Sohns. Wer Aufnahme sucht im Reich Gottes, der muss den wahren Worten Christi vertrauen. Wer reinen Herzens ist, der ruht in Gott und trägt Jesus in sich. In Treue fest zu Gott hat die gottesfürchtigen Brüder erfunden, Pater Achatius, Guardian des Barfüßerkonvents zu Salzburg.“
Vinzenz wetzte seine Lästerzunge an den scharfkantigen Rändern seiner Amalgamplomben, die wie spitze Eisberge aus dem Rot des entzündeten Zahnfleischs ragten:
„Ich denke also bin ich, ich glaube also spinn ich!“
Simon verzog seine Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen, hütete sich aber vor spitzzüngigen, sophistischen Bemerkungen. Stattdessen vertiefte er sich in den apologetischen Text:
„Aus den Abhandlungen des Acontius wissen wir, dass die Unterdrückung des freien Christenmenschen und des Strebens nach Erkenntnis zu den Hauptstücken der Feldherrnkünste Satans zählt.“
Vinzenz klang gereizt:
„Das theologische Gefasel bringt uns nicht weiter. Darf ich Indiana Jones daran erinnern, dass wir hier sind, um das Verschwinden meines Onkels aufzuklären und nicht um uns in soteriologische und heilsgeschichtliche Spekulationen zu verlieren.“
Simon war kein cholerisch veranlagtes HB-Männchen, doch langsam
Weitere Kostenlose Bücher