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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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sagen!“
                Vinzenz pfiff durch die Zähne:
                „Nicht schlecht der Specht!“
                Von einem ideellen, immateriellen Standpunkt aus betrachtet, waren die „Annales“ allerdings unbezahlbar. Enthielten Sie doch die gesammelte „Historie der Einsiedeley zu Hochharting“: über Jahrhunderte hinweg hatten die hier ansässigen Kartäuser und Einsiedlermönche große und kleine Geschichten aufgeschrieben, hatten Denk- und Merkwürdiges zu Papier gebracht. Simon konnte sich an dem „anachronistischen“ Wunderwerk nicht satt sehen:
                „Schau dir diese Seiten an, dieses unglaubliche Papier! Ein auf billigem Fabrikpapier gedrucktes Exemplar wäre nach so langer Zeit längst Staub und Rauch.“
                Vinzenz schliff seine Zunge an den kariösen Zahnstumpen:
                „Schön und gut! Aber was steht drauf auf dem Papier!“
                Geflissentlich vermied er jeglichen beckmesserischen Kommentar. Ein einziges, winziges Widerwort konnte eine Lawine auslösen, konnte in einem langatmigen, zu epischer Breite ausgewalzten Monolog kulminieren:
                „Und? Für mich sieht das aus wie eine Kreuzung aus Fliegenschiss, Arabisch und Aramäisch.“
                Simon war nahe daran die Geduld zu verlieren:
                „Leucht gefälligst ein wenig höher du Depp sonst sehe ich nichts!“
                In einem Punkt musste er Vinzenz allerdings Recht geben. Die Entzifferung der verschnörkelten Majuskelschrift erwies sich als zeitraubendes Unterfangen. Verdutzt rieb er sich die gerunzelten Brauen:
                „An Matthäi ist Simon Sinnetsbichler auf Hochharting khomen und hat allda mit der Ainsiedlerey sein Anfang gemacht.“
                Seine Augen leuchteten wie im chymischen Feuer:
                „Simon?“
                Er leckte an den Vokalen, schlürfte die Konsonanten aus der Austernschale:
                „Simon bar Kochba, der Sternensohn! Simon der Magier! Simon Kananäus, der Zelot! Simon bar Jona genannt Kephas…“
                Vinzenz plusterte sich besserwisserisch auf:
                „Kephas! Das ist aramäisch und bedeutet Felsen. Im übertragenen Sinn steht es für Standhaftigkeit und Glaubensfestigkeit.“
                Jedenfalls schien er nur auf das Stichwort „Stein“ gewartet zu haben, um sein Lieblingsthema aufs Tapet zu bringen. Er spreizte die Finger, breitete die Arme aus und beschrieb damit einen allumfassenden Kreis, um die symbolische Figur des Ouroboros, der alchemistischen Schlange, zu umspannen:
                „In der hermetischen Weltsicht bilden Himmel und Erde einen Kreis. Die durch einen Monolith markierte Vertikale bezeichnet den rituellen Kanal, die Nabelschnur, die das Oben und das Unten, die kosmischen Kräfte mit den tellurischen Energieströmen verbindet. Hier in Hochharting befinden wir uns am Nabel der Kraft.“
                Vinzenz blickte sich ängstlich um, so als ob jeden Moment ein keltischer Erdgeist materialisieren könnte:
                 „Weshalb hat die katholische Kirche gerade Anfang des 13. Jahrhunderts die heilige Inquisition ins Leben gerufen?“
                Simon wollte sich dem Studium des Buchs widmen und nicht über das heilige Offizium zu Gericht sitzen. Mechanisch erwiderte er:
                „Um die verderbte Häresie mit Stumpf und Stiel auszurotten.“
                Vinzenz lächelte wie eine Muräne, kurz bevor sie zuschnappte:
                „Nein! Die Spürhunde des Papsts stießen zur Zeit der Kreuzzüge auf die Geheimnisse des Orients, der Gnosis, der magischen Künste. Sie gingen daran den Initiierten, den Alchemisten und Schwarzkünstlern ihr okkultes Wissen unter der Folter abzupressen.“
                Vinzenz richtete den Strahl der Taschenlampe auf die wie Kraut und Rüben übereinander gestapelten Kisten und Kartons – und Simon saß mitsamt den „Annalen“ im Dunklen. Wütend zischte er:
                „Kruzifix. Wie soll ich etwas sehen, wenn du wie ein Frosch in der Gegend herumhüpfst? Jetzt leucht hierher und lass mich in Ruhe arbeiten!“
                Wider erwarten gehorchte ihm Vinzenz aufs Wort. Simon mühte sich die im Licht der Funzel verschwimmenden

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