Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
passiert ist.«
Achselzucken. Er zupfte an einem Fingernagel. »Es war im Kunstunterricht. Die Kinder sollten ausschneiden und malen, und dabei wurde ein Mädchen verletzt. Okay, Natalie war temperamentvoll, aber die andere hat sie immer rumkommandiert. Einmal hatte Natalie dabei zufällig eine Schere in der Hand. Es war kein geplanter Angriff. Ich meine, sie war erst neun.«
Blitzartig sah ich Natalie, das ernste Kind auf dem Familienfoto, wie sie die Schere auf die Augen des Mädchens richtet. Leuchtend rotes Blut, das sich unvermittelt mit den zarten Wasserfarben mischt.
»Was wurde aus dem Mädchen?«
»Das linke Auge konnten sie retten. Das rechte war, hm, hinüber.«
»Natalie hat ihr in beide Augen gestochen?«
Er stand auf und zeigte auf mich hinunter, fast wie seine Mutter. »Danach ging Natalie ein Jahr lang zum Seelendoktor. Wurde monatelang von Albträumen geplagt. Ich meine, sie war erst neun. Es war ein Unfall. Furchtbar für uns alle. Mein Dad legte ein Konto für das Mädchen an. Wir zogen fort, damit Natalie einen neuen Anfang machen konnte. Darum sind wir hergekommen – Dad nahm die erstbeste Stelle an, die sich ihm bot. Wir kamen mitten in der Nacht, wie Verbrecher. Hierher. In diese gottverdammte Stadt.«
»Mensch, John, ich wusste gar nicht, dass es so schlimm für dich ist«, murmelte Meredith.
Er begann zu weinen und setzte sich wieder, das Gesicht in den Händen.
»Das heißt nicht, dass es mir leid tut, hergekommen zu sein. Nur dass
sie
hergekommen ist. Wir wollten ihr damit helfen. Und jetzt ist sie tot.« Er stieß einen leisen Jammerlaut aus, und Meredith nahm ihn widerwillig in die Arme. »Jemand hat meine Schwester umgebracht.«
Gayla teilte mir mit, an diesem Abend werde es kein formelles Essen geben, da Miss Adora unpässlich sei. Ich nahm an, dass es Mutters Marotte war, auf der Anrede »Miss« zu bestehen, und stellte mir vor, wie das Gespräch wohl verlaufen sein mochte.
Gayla, die besten Dienstbotinnen in den besten Haushalten sprechen die Dame des Hauses mit diesem offiziellen Namen an. Und wir möchten doch zu den besten gehören, nicht wahr?
Ich wusste nicht, ob ich oder die Auseinandersetzung mit Amma die Ursache für ihre Unpässlichkeit waren. Ich hörte die beiden wie zänkische Vögel in Adoras Zimmer streiten, wo Mutter ihr zu Recht vorwarf, unerlaubt mit dem Golfwagen gefahren zu sein. Wie in allen ländlichen Gegenden waren auch die Menschen in Wind Gap geradezu besessen von Fahrzeugen. Die meisten hatten anderthalb Autos für jeden Hausbewohner (wobei das halbe je nach Einkommensklasse ein Sammlerstück oder ein fahrender Schrotthaufen war), dazu Boote, Jetski, Motorroller, Traktoren und, falls sie zur Elite von Wind Gap gehörten, eben auch Golfwagen, mit denen die Jüngeren gern ohne Führerschein durch die Stadt kurvten. Strenggenommen war es gegen das Gesetz, doch keiner hielt sie deswegen an. Vermutlich hatte meine Mutter versucht, Amma nach den Morden dieses Stückchen Freiheit zu nehmen. Was ich übrigens auch getan hätte. Ihr Streit zog sich über eine knappe halbe Stunde hin, quietschte hin und her wie eine rostige Säge.
Belüg mich nicht, kleines Fräulein
… Die Warnung war so vertraut, dass ich mich unbehaglich fühlte. Also wurde Amma gelegentlich doch erwischt.
Als das Telefon klingelte, ging ich ran, damit Amma nicht aus dem Konzept kam, und hörte zu meinem Erstaunen das Cheerleader-Stakkato meiner alten Freundin Katie Lacey. Angie Papermaker gab eine Heulfete für die Mädels. Jede Menge Wein trinken, traurigen Film ansehen, heulen, klatschen. Ich solle doch auch kommen. Angie wohnte im neureichen Teil der Stadt – in einem der riesigen Anwesen am Rande von Wind Gap. Fast schon in Tennessee. Katie war nicht anzumerken, ob sie eifersüchtig war oder sich gleichgültig gab. Vermutlich ein bisschen von beidem. Sie hatte immer das gewollt, was andere hatten, nur um des Habens willen.
Nachdem ich Katie und ihre Freundinnen schon bei den Keenes getroffen hatte, war mir klar, dass ich an einem abendlichen Treffen nicht vorbeikommen würde. Also Heulfete oder Johns Aussage niederschreiben, wobei mich Letzteres gefährlich traurig machen würde. Außerdem würde mir dieser Abend, ähnlich wie die Begegnung mit Mutters gehässigen Freundinnen, mehr Informationen liefern als ein Dutzend offizieller Interviews.
Als Katie Lacey, verheiratete Brucker, vor dem Haus ankam, wurde mir klar, dass sie es gut getroffen hatte. Sie holte mich
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